Als mein Telefon klingelt ist es kurz vor Mitternacht und ich wollte eigentlich ins Bett gehen. Am Telefon ist Onkel Franks langjähriger Freund und Buttler Alfred. Er kann kaum sprechen vor Aufregung.
„Alfred, nun beruhigen sie sich mal und dann der Reihe nach, was ist passiert?"
Als Alfred mir erzählt, Onkel Frank wäre verstorben, reißt es mir beinahe den Boden unter den Füßen weg. Ich bin fassungslos und lasse mich in einen Sessel fallen. Onkel Frank war für mich immer mehr ein Vater als ein Onkel. Entsprechend nahe geht mir sein Tod. Das er nun nicht mehr da sein soll ist ein Schock für mich. Bis weit nach Mitternacht telefoniere ich daraufhin mit Verwanden und Freunden, um sie darüber in Kenntnis zu setzen. Sie sind ebenso geschockt wie ich. Ich werde Morgen ganz früh nach New York fliegen, ich will und muss vor Ort sein. Schlaf finde ich keinen mehr, daher liege auf meinem Bett und denke an die gemeinsamen Erlebnisse und die Zeit, die wir zusammen verbracht haben.
Am nächsten Morgen stehe ich vor dem großen Bürogebäude und blicke der steil vor mir aufragenden Fassade mit ihren tausenden von Fenstern entlang bis nach oben und noch immer erscheint sie mir unendlich, denn auch heute kann ich ihr Ende nicht sehen. Ich war als kleiner Junge öfter bei Onkel Frank im Büro, aber seit dem Studium nicht mehr, es war einfach keine Zeit dazu. Wie schnell 25 Jahre vergehen. Die vielen Besuche und Sommerferien habe ich auf seinem Anwesen außerhalb von New York verbracht. Ein seltsames Gefühl hier vor der großen Glastür zu stehen, die ich als kleiner Junge als so riesig empfunden habe und heute ist sie nicht anders als andere, durch die ich in den letzten Jahren gegangen bin. Jetzt durch diese Tür zu gehen fällt mir doch etwas schwer.
Niemand hier kennt mich noch, es ist zu lange her. Auch gut so, denn dann kann ich erst einmal unerkannt durchs Gebäude gehen.
„Was kann ich für sie tun Sir?", fragt mich der Wachmann als ich an seinem Schalter stehe.
Der gute alte Mike, er erkennt mich nicht. Grau bist du geworden und rundlicher, stelle ich schmunzelnd fest. Onkel Frank hat ihn vor gut 35 Jahren erwischt, als er als Teenager versucht hat seinen Wagen aufzubrechen. Seinen geliebten 54er Cadillac, den er bis heute noch besitzt, eine Todsünde. Mike erzählte ihm von seinem harten Leben und dem häuslichen Umfeld, in dem er aufwachsen musste. Anstatt ihn zur Polizei zu bringen, stellte Onkel Frank ihn einfach als Putzhilfe ein. Er sagte ihm damals, dass wer sich etwas leisten will, auch hart dafür arbeiten muss. Man bekommt nichts geschenkt und würde er ihn noch einmal dabei erwischen, wie er etwas anstellt, dann würde er Mike eigenhändig in seinem 54er Cadillac ins Gefängnis fahren. Zwei Jahre später dann wurde Mike Nachtwächter und drei Jahre später ist er Wachmann am Empfang geworden, wo er noch heute sitzt. Ich habe sogar mit seiner Tochter Lisa ab und an hier gespielt. Ja, so war Onkel Frank, er hat immer das Gute in einem Menschen gesehen. Aber im Geschäftsleben war er knallhart.
„Robert Duval. Ich möchte zu Ms Nguyen", sage ich und grinse.
„Einen Moment, ich sehe eben nach. Mister Duval", sagt er und tippt etwas in seinen PC.
Mike scheint völlig neben sich zu stehen, er fällt nicht einmal über meinen Namen. Dann blickt er hoch.
„Oh, es tut mir leid, aber ich finde keinen Termineintrag."
„Schon in Ordnung Mike, ich habe keinen Termin. Wie geht es Lisa?", sage ich und grinse breiter.
Er schaut mich an und ich sehe, wie es in seinem Kopf arbeitet. Dann wie er anfängt leicht seinen Kopf zu schütteln und wie sich seine Augen weiten.
„Robert? Bist du es?", strahlt er mich an und steht auf.
„Lange her Mike, sehr lange."
„Mein Gott Robert, es tut mir so leid für Dich. Lisa geht es gut, sie ist verheiratet und Mutter von drei süßen Kindern. Schön dich wiederzusehen."

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Neue Wege
RomanceSusan Mey arbeitet sein vielen Jahren als Sachbearbeiterin für die Global-Industries Company mit Sitz in New York. Als der Eigentümer und Leiter der Holding, Franklin H. Carson, plötzlich verstirbt, beginnt eine Zeit der Ungewissheit und Existenzäng...