Kapitel 1

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Dags P.o.V.:

Mit festem Griff umklammerte ich den Koffer, bohrte meine Nägel leicht in meine Handflächen, zog mir umständlich meine Schuhe an.

Ich sah meinen Freund nicht an, der an der Wand lehnte, nicht weit von mir weg. Die Stille zwischen uns war zum zerreißen gespannt.

"Und nur weil es einmal nicht so läuft, wie du willst, haust du sofort ab, oder was? Dafür haben wir nicht unsere ganzen Termine abgesagt!", knurrte mich Vincent an, zuckte bei seiner viel zu lauten Stimme stark zusammen.

Vermutlich sprach er nicht einmal so laut, aber in der Stille der Nacht wirkte alles irgendwie lauter.

"Doch, genau dafür haben wir alles abgesagt. Ich kann nicht mehr, Vincent, ich kann das alles nicht mehr", flüsterte ich, zog mir meine Jacke über, "Deine Freunde, deine Arbeit - ich pass doch eh nicht mehr in dein Leben."

Das erste Mal sah ich ihn wieder an, sah seinen geschockten Blick und wie er leicht anfing zu zittern. "Das ist nicht dein Ernst. Machst du- Machst du Schluss?"

Ich wusste nicht, ob es ihm bewusst war, als die Tränen anfingen über seine Wangen zu rollen, seine Hand auf seinen Mund presste, um das Schluchzen zu unterdrücken, während er leicht an der Wand herunter rutschte. Es wirkte, als würde das alles passieren, ohne dass es ihm bewusst war.

Leicht schluckte ich, bevor ich mich vor ihn kniete und ihn ernst ansah. "Ich mach nicht Schluss, Vincent. Ich brauche nur eine Pause, um wieder klar zu kommen. Ich fühle mich mit deinen neuen Freunden und deinem Verhalten einfach nicht wohl und mir geht es grundsätzlich nicht gut. Aber ich komme wieder, versprochen."

Mit verweinten Augen sah er mich an, streckte vorsichtig die Arme nach mir aus und ich nahm ihn in den Arm. Für einen kurzen Moment überdachte ich meine ganze Entscheidung, weil er mich so an die Person erinnerte, die mein bester Freund und mein Verlobter war, in die ich mich verliebt hatte - nicht mehr an die Person, die er geworden war.

Aber ich wusste, dass ich gehen musste, anders würde sich nichts ändern.

"Wann?", murmelte er mit gebrochener Stimme, "Wann kommst du wieder?"

"Ich weiß es noch nicht", ich atmete zittrig durch, zuckte zusammen, als ich auf die Uhr sah, schließlich musste Daniel jeden Moment kommen, "Ich muss los, Vincent."

Er drückte mich noch einmal fest an sich, küsste mich für einen ganz kurzen Moment auf die Lippen, kaum spürbar, aber ich konnte die salzigen Tränen auf seinen Lippen schmecken.

Zitternd löste ich mich von ihm, nahm meinen Koffer wieder und öffnete die Tür, lief ohne ein weiteres Wort die Treppen nach unten. Zwar hörte ich das "Ich liebe dich" noch, aber ich konnte, wollte es in diesem Moment nicht erwidern.

Es wäre falsch gewesen.

Als die Tür zufiel, konnte ich das verzweifelte Schreien hören.

In mir zog sich alles zusammen, mein Herz blieb für einen kurzen Moment stehen und am liebsten wäre ich sofort wieder zurück gerannt, hätte Vincent wieder fest in den Arm genommen und ihn so lange beruhigt, bis alles wieder gut sein würde. 

Dann hätten wir Sex gehabt und für ein paar Tage wäre alles perfekt gewesen. Wir wären wieder verliebt gewesen, wie am ersten Tag, hätten uns gar nicht voneinander lösen können. 

Aber dann wäre alles wieder von vorne losgegangen, Vincent nur unterwegs und arbeiten, während ich kaum aus dem Bett kam, mich von Tag zu Tag schlechter fühlte. 

Seufzend verließ ich den Wohnkomplex, sah mit leicht brennenden Augen hoch zu unserer Wohnung, wo das Licht noch aus den Fenstern schimmerte. Mir stachen die Tränen in die Augen, ich konnte gar nichts dagegen tun. 

Ich steckte mir eine Zigarette an, während ich auf meinen besten Freund wartete, atmete den Rauch tief ein und versuchte die beruhigende Wirkung des Nikotins zu fühlen - aber sie wollte einfach nicht eintreten, lehnte nur weiter angespannt an der Wand des Hochhauses. 

Wenn Daniel nicht bald kommen würde, dann würde ich vielleicht doch wieder hochgehen, mich der Anspannung und der Angst hingeben, auch wenn ich es nicht durfte. Auch wenn es das nur schlimmer machte. 

Das Licht wurde gelöscht. Vincent verkroch sich in die Dunkelheit des Schlafzimmers - das kannte ich schon, nur, dass er dann meistens zu mir unter die Bettdecke kroch und sich an mich kuschelte, nachdem er lange weg gewesen war. 

Seufzend steckte ich mir die nächste Zigarette an, schloss für einen kurzen Moment die Augen und öffnete sie doch wieder, als zu viele Bilder auf einmal auf mich einprasselten. 

Das helle Licht der Scheinwerfer blendete mich, wirkte unpassend in dem sonst komplett dunklen Wohngebiet. 

Trotzdem war ich unendlich erleichtert, als ich den alten VW vorfahren sah. 

Road Tripping - SDP/257ers Short StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt