Kapitel 2

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Daniels P.o.V.:

Etwas angespannt fuhr ich durch die Straßen Berlins, die Musik spielte nur ganz leise im Hintergrund.

Hin und wieder wurde die Radiomusik von irgendwelchen Ansagen irgendwelcher Radiosprecher unterbrochen. Die Musik war aber eh ziemlich beschissen, aber Stille wäre beschissener gewesen. 

Ich konzentrierte mich eh nicht wirklich darauf, sah nur verbissen auf die Straße, versuchte mich meinen Gedanken nicht hinzugeben - aber es war schon seit fünf Stunden extrem schwer. 

Nervös krallte ich meine Nägel in das Polster des Lenkrads, brach sie mir fast ab, war aber zum selben Zeitpunkt erleichtert, als ich endlich in die richtige Straße einbog. 

Es war sehr dunkel, was ungewöhnlich für die Hauptstadt war, nicht einmal die Straßenlaternen leuchteten. 

Dag schien förmlich mit der Dunkelheit zu verschmelzen. 

Würde ich nicht im Schlaf wissen, in welchem der Hochhäuser Vincent und Dag wohnten, und hätte das leichte Klimmen der Zigarette gesehen, wäre ich wahrscheinlich an ihm vorbei gefahren. 

Er kniff die Augen zusammen, als die Scheinwerfer meines Autos ihn trafen, auf seinen Wangen glitzerte im Licht eine leichte Tränenspur. 

Ich biss mir leicht auf die Lippe, beobachtete ihn, wie er sich von der Wand abstieß, um das Auto ging und seinen Koffer zu meinem in den Kofferraum schmiss. 

Keine zehn Sekunden später öffnete Dag die Beifahrertür, versuchte mich anzulächeln. Aber das Lächeln erreichte seine Augen nicht, sie wirkten weiterhin leer und traurig - das waren sie in letzter Zeit immer gewesen, das hatte ich sogar gemerkt, obwohl wir uns nur über Videochat sehen konnten. 

"War nicht so einfach, hm?", murmelte ich leise, meine Stimme klang kratzig, vermutlich weil ich seit Stunden, vielleicht mehreren Tagen nicht mehr geredet hatte. Aber was sollte man auch reden, wenn man ganz alleine in seiner Wohnung war?

"Nicht so", gab er leise als Antwort, sah von mir weg, während er sich anschnallte und ich das Auto aus dem Wohngebiet lenkte, auf die Hauptstraße einbog. 

Immer wieder warf ich Dag einen Blick zu, wie er müde einen Blick aus dem Fenster warf. Ich wusste, dass er so tat, als würde er nicht weinen, trotzdem hörte ich immer wieder das leichte Schluchzen und das schwere Atmen. 

Ich versuchte, auf das Weinen nicht zu reagieren, weil ich wusste, dass Dag es nicht mochte, darauf angesprochen zu werden, besonders nicht jetzt. Aber es fiel mir schwer. 

Seufzend versuchte ich mich wieder auf die Straße zu konzentrieren. Aber die Gedanken kamen wieder hoch, noch stärker als vorher, und ich krallte mich wieder fest in das Polster des Lenkrads.

Wer vermisste einen schon, wenn man eh schon alle damit verschreckt hatte, dass man nicht wusste, wer man war und seine komplette Sexualität in Frage stellte? Da hatte ich es jetzt etwas leichter.

Ich biss mir stark auf die Lippe, versuchte den Gedanken auszublenden, mich wieder ins Hier und Jetzt zu holen.

 Ich sah aus dem Augenwinkel auf die Tankanzeige, die bedrohlich in den roten Bereich ging, was mich schlagartig in die Realität zurückholte - denn mitten auf der Autobahn stehen bleiben, wollte ich jetzt nicht unbedingt.

Kurzerhand entschied ich mich also, an der nächsten Tankstelle anzuhalten, kurz bevor wir aus Berlin herausfuhren. 

Die Tankstelle war komplett leer, was vermutlich auf die Uhrzeit zurückzuführen war. 

Mitten in der Nacht und mitten in der Woche, musste kaum einer zur Tankstelle fahren. 

Seufzend stieg ich aus, streckte mich einmal leicht und ging dann zur Zapfsäule. Müde rieb ich mir über die Augen, während mein Auto langsam volltankte, beobachtete Dag aus dem Augenwinkel, der sich leicht gegen die Scheibe lehnte. 

Seine Augen schienen noch immer vor Tränen zu schimmern und ich war mir sehr sicher, dass sich das die nächsten Stunden nicht ändern würde. 

Aber ich hatte mir fest vorgenommen, so lange unterwegs zu sein, bis es ihm besser ging, bis wir wieder beide das Gefühl hatten, weiter machen zu können, in unser altes Leben zurückkehren zu können.

Als mein Auto vollgetankt war und mein Geldbeutel schon blutete, ging ich in das Tankstellengebäude, um dort zu bezahlen. Dazu legte ich noch Dags Lieblingsgummibärchen und Lieblingsschokolade. 

"Hallo, einmal die drei, bitte", ich lächelte die Kassiererin an, "Und eine große Marlboro Gold."

"Aha", murmelte sie, musterte meine Tattoos auf dem Handrücken und meine gemachten Fingernägel, "Und Sie sind sicher, dass Sie überhaupt noch fahren dürfen?"

Ich erstarrte etwas und knirschte leicht mit den Zähnen. Wie oft ich mir solche Sprüche anhören durfte, wie oft ich auf Instagram oder anderen Plattformen wirklich gemeine Kommentare zu meinem Aussehen fand. 

Das half nicht wirklich, wenn man sich mitten in einer Selbstfindungsphase befand. 

"Natürlich. Und ich wüsste auch nicht, was Sie das angehen würde", murmelte ich leise, klang sicherlich etwas genervt, versuchte aber freundlich zu bleiben und steckte die Packung Zigaretten und die Süßigkeiten schnell ein. 

"Man darf ja wohl noch fragen, wenn man Angst hat, gleich ausgeraubt zu werden."

Verständnislos sah ich sie an, knallte ihr das Geld auf die Theke und verließ dann ohne ein weiteres Wort das Gebäude. Innerlich kochte ich, gemischt mit tiefer Enttäuschung. 

Enttäuschung, dass die Menschheit scheinbar immer noch nicht so weit war. 

Vorsichtig öffnete ich die Beifahrertür, sah noch, wie sich Dag hektisch die Tränen aus dem Gesicht, versuchte wieder zu lächeln, aber seine Unterlippe zitterte und seine Augen sahen immer noch so aus, als würden sie förmlich schwimmen. 

Ich zog ihn ohne ein weiteres Wort fest in meine Arme, drückte ihn fest an mich und vergrub das Gesicht in seinen Haaren, atmete seinen Geruch tief ein. 

Zögerlich schlang er seine Arme um meinen Körper, vergrub das Gesicht an meiner Sweatjacke, zitterte stark. 

"Es wird alles gut, Dag, versprochen", nuschelte ich in seine Haare, "Irgendwann wird alles gut."

Er schluchzte leise auf, verstärkte den Griff noch - und auch wenn ich keine Luft bekam, ließ ich ihn nicht los. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich ihn nicht loslassen können. 

"Versprochen", murmelte er leise, legte eine Hand auf meine Brust, als würde er meinen Herzschlag spüren wollen, "Wirklich?"

"Natürlich. Ich bin da", ich löste mich etwas von ihm, sah ihn ernst an.

Vorsichtig holte ich die Sachen heraus, drückte sie ihm in die Hände. Mit großen Augen musterte er sie, sah mich fragend an. "Dankeschön."

Ich lächelte leicht, wuschelte ihm einmal kurz durch die Haare. "Erstmal was kleines zum Trost, vielleicht hilft es ja doch ein bisschen."

Mit einem letzten Lächeln ließ ich mich wieder auf dem Fahrersitz fallen, startete den Motor und fuhr mit zu hoher Geschwindigkeit aus Berlin heraus. 

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Dag wieder, der jetzt etwas glücklicher aussah, vorsichtig die Gummibärchen öffnete und sie langsam aß. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als wäre sein grau wieder etwas bunter geworden. 

Lächelnd blickte ich wieder auf die Straße. 

Vielleicht würde ja wirklich irgendwie alles gut werden. 

Vielleicht war es ja doch kein leeres Versprechen.

Road Tripping - SDP/257ers Short StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt