Kapitel 10

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Vincents P.o.V.:

Ich war verzweifelt, so verdammt verzweifelt. Es war, als würde ich ersticken. 

Dags Gitarren standen hier herum, sie waren nicht einmal verstaubt und sie erinnerten mich auf brutale Weise an ihn, daran, dass er immer noch nicht wieder bei mir war. Ich vermisste ihn so sehr. 

Ich hätte mich auf Capi konzentrieren sollen, der mich seit zwei Tagen wieder in mein Studio schleppte - aber stattdessen kämpfte ich gegen die Tränen und die Verzweiflung.

Immer wieder drückte ich versehentlich auf den falschen Knopf, was mir einen genervten Blick einbrachte. Aber meine Augen schwammen vor Tränen, deswegen sah ich es gar nicht so wirklich. 

"Was ist denn los mit dir, Vincent?", wurde ich mit leicht vorwurfsvoller Stimme gefragt, brachte mich etwas zum Zusammenzucken. 

Gestresst fuhr ich mir durch die Haare. Ich wollte nicht arbeiten, sondern nach Hause, ins Bett, und mir in Ruhe die Augen auszuheulen, während ich Dags Kissen umklammerte und Eis aß. 

"Tut mir leid", murmelte ich leise, schob ihn schnell wieder vor das Mikrofon und setzte mir wieder die Kopfhörer auf. 

Ich versuchte mich wirklich zu konzentrieren, weil ich einfach nur fertig werden wollte, aber es erinnerte mich einfach alles an Dag. 

Die Erinnerungen schienen mein Herz förmlich zu zerfetzen, die Erinnerungen daran, hier gemeinsam Liebeslieder aufzunehmen, die ich für ihn geschrieben hatte, Danach kuschelnd auf der Couch, weil es ein langer Tag gewesen war. 

Dags verliebtes Grinsen, wenn ich ihm sagte, dass die Lieder für ihn waren, war in mein Gehirn festgebrannt.

Niemals hätte ich gedacht, dass dieses Grinsen irgendwann einfach nur weh tun würde. Wie lange war es überhaupt her, dass er so gegrinst hatte? Wochen, Monate? Vielleicht Jahre?

Ich bemerkte nicht, wie mir die Tränen, wie Bäche über die Wangen liefen, alles nass machten. 

Schluchzend drückte ich mir eine Hand auf den Mund, fing heftig an zu zittern. 

Mit der anderen Hand krallte ich mich in den Stuhl, hatte das Gefühl, das Polster gleich zu zerfetzen. 

Ich riss mir die Kopfhörer ab, rannte nach draußen an die frische Luft. 

Mit zitternden Händen angelte ich nach meinen Zigaretten. Ich rauchte nicht, außer, wenn ich das Gefühl hatte, dass ich es wirklich brauchte. 

Gerade hatte ich dieses Gefühl. 

Zittrig atmete ich den Rauch in die Luft, um mich herum wurde es langsam dunkel und kalt. 

Dass es aber Zigaretten waren, die ich vor einiger Zeit von Dag geklaut hatte, machte meine Anspannung aber nicht besser. 

Wie lange war das jetzt her? Sicher Ewigkeiten. 

Unruhig drehte ich die Schachtel in meiner freien Hand, wartete darauf, dass das Nikotin irgendwie wirkte. Wenn ich schon meine Lungen vergiftete, wollte ich wenigstens etwas davon haben. 

Nachdem ich die erste Zigarette aufgeraucht hatte, steckte ich mir direkt die zweite an, zog fast schon gierig daran. 

Obwohl ich immer noch nicht ruhiger wurde, wischte mir mit dem Ärmel meines Hoodies  über die Augen und Nase. 

"Willst du nicht lieber was stärkeres?"

Sofort stieg mir der unverwechselbare Geruch von Gras in die Nase. Instinktiv musste ich mich schütteln. 

"Nein, will ich nicht. Ich kiffe nicht, ich hasse das", murmelte ich leise, drückte die Kippe aus, sah konsequent von Capi weg. Dag hätte das gewusst, Dag wusste alles über mich. 

"Das überlässt du dann doch Dag, oder was?", fragte er, setzte sich direkt neben mich - ich sah ihn trotzdem nicht an. 

Es zog schmerzhaft in meinem Herzen, als er seinen Namen sagte. Alleine das tat schon so unglaublich weh. 

"Mein Verlobter ist nicht hier, falls es dir nicht aufgefallen ist", knurrte ich leise, weil es einfach zu sehr weh tat, "Und er hat seit Ewigkeiten nicht mehr gekifft - glaub ich."

Ich bekam große Augen, als mir auffiel, dass ich es eigentlich gar nicht wusste. Und mir fiel außerdem auf, dass ich verdammt viel nicht mehr über ihn wusste, was ich eigentlich wissen sollte. 

Als wäre ich das ganze letzte Jahr kein Teil seines Lebens mehr gewesen. Dabei wohnten wir in der selben, kleinen Wohnung, sahen uns jeden Tag. 

"Dag ist weg", flüsterte ich leise, "Ich hab ihn verloren."

Ich fuhr über meinen Ring. Eigentlich sollten wir doch längst verheiratet sein. 

Aber das waren wir nicht, vielleicht würden wir es niemals sein. 

Ich konnte mein Herz brechen fühlen, in mindestens eintausend kleine Teile. Wenn ich überhaupt jemals eines besessen hatte, da war ich mir schon lange nicht mehr sicher. 

Ich fing an zu weinen, wie ein kleines Kind, mein ganzes Gesicht war vor Tränen verschmiert und meine Nase war ganz verstopft. 

Dass Capi immer noch neben mir saß, vergaß ich, interessierte mich auch überhaupt nicht mehr. 

Ich wollte nur Dag, wollte jedes Kuscheln, jede Umarmung und jeden Kuss nachholen, alles, was er solange nicht von mir bekommen hatte. 

Man konnte gar nicht in Worte fassen, wie sehr ich es bereute, dass er für mich so selbstverständlich gewesen war - und wie sehr ich ihn jetzt vermisste. 

"Vincent, beruhig dich doch jetzt mal wieder."

Ich zuckte heftig zusammen, ging automatisch in Schutzhaltung, als wenn er zuschlagen würde, wenn ich weiter meine Tränen zeigte. 

Vor Dag war es nie so schlimm gewesen, zu weinen. Früher hatten wir oft voreinander geweint. 

Wie lange war das her? 

Plötzlich wurde ich wütend, richtig wütend. Das Blut in meinen Adern schien förmlich anzufangen, zu kochen. 

"Gott, nein, nein, ich beruhige mich nicht", fuhr ich ihn an, sah ihm das erste Mal heute ins Gesicht, "Ich habe meinen Verlobten verloren, ich habe die Liebe meines Lebens verloren. Ich weiß nicht, wo er ist, wie weit er weg ist. Und es ist meine Schuld, weil ich ihm weh getan habe - immer und immer wieder."

Ich holte tief Luft, fuhr mir verzweifelt durch die schon zu langgewachsenen Haare. 

"Ich habe verdammt nochmal jedes Recht zu weinen so viel wie ich will. Auch wenn es meine Schuld ist. Und als mein Freund, würdest du mich wenigstens mal in den Arm nehmen", ich stand auf, klopfte mir den Staub von der Kleidung, versuchte danach so professionell wie möglich zu klingen, "Also entweder wartest du mit deinem Album, bis ich mein Leben wieder halbwegs im Griff habe oder du suchst dir einen anderen Produzenten."

Damit ließ ich ihn sitzen, wartete nicht auf eine Antwort von ihm, straffte die Schultern und ging wieder ins Studio, wo ich schnell alles herunterfuhr und mit zitternder Hand Dags Gitarren sauber machte, bis man sich darin spiegeln konnte.

Danach ging ich zu Fuß nach Hause, besorgte mir noch Dags Lieblingseis und verkroch mich dann den Rest des Tages ins Bett, einen Pulli von Dag dicht an mich gedrückt. 

A.N.: Ich lasse euch selbst bewerten, wie er das Verhalten von Capi und im Gegensatz dazu von Vincent findet. Da gibt es sicherlich verschiedene Ansichten ;D

Road Tripping - SDP/257ers Short StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt