1 Mamoude

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Eva ist gerade auf dem Heimweg einer Hochzeit guter Freunde. Sie sitzt im Zug und sinnt über den Abend nach, leicht benebelt vom Alkohol, als sie an einem Bahnhof auf einmal ein bekanntes Gesicht wahrnimmt. Sie dreht sich um und schaut, ob der junge Mann, dem das Gesicht gehört, eingestiegen ist. Er hat sie offenbar ebenfalls entdeckt, Eva schnappt nach Luft und dreht sich schnell zurück. Sie widmet sich ihrem Handy und tut so, als sei sie beschäftigt. Doch als er an ihr vorbeiläuft, blickt sie ihn dennoch verstohlen an, was ihm natürlich nicht entgeht.

"Bonsoir, Eva." Mamoude grinst sie an. Ohne zu antworten errötet sie, peinlich berührt, erwischt worden zu sein. Dann schaut sie wieder auf ihr Handy und wartet darauf, dass Mamoude sich setzt und ein Gespräch beginnt. Aber er läuft weiter und setzt sich ein paar Abteile weiter so hin, dass Eva ihn nicht mehr sehen kann.
Sie schilt sich in Gedanken für ihre Schüchternheit. So lange wünscht sie sich bereits, Mamoude wieder zu sehen, und dann redet sie nicht einmal mit ihm. Kurz überlegt sie, ihm hinterher zu laufen, tut es jedoch nicht. Stattdessen nimmt sie sich vor, ihm zu Hause eine Nachricht zu schreiben.

Daheim warten bereits einige Nachrichten von Mamoude auf Eva:

Hey Eva

Warum hast du mir nicht geantwortet?

Wo bist du so spät am Abend noch gewesen?

Mamoude. Ich war mit Freunden etwas trinken. Warum hast du dich im Zug nicht zu mir gesetzt?

Bevor sie der Mut wieder verlässt, schickt Eva die Nachricht ab. Und bereut es sogleich, da Mamoude bestimmt ahnen würde, dass sie log, denn er hatte bestimmt bemerkt, dass Eva nur zu besonderen Anlässen Kleider trug. Ihr Herz macht einen Satz, als sie sieht, dass Mamoude sofort zurückschreibt.

Ich wollte dich nicht stören.

Ich vermisse dich.

Gerne will Eva zurückschreiben, dass Mamoude ihr ebenfalls fehlt. Stattdessen antwortet sie, dass sie zur Zeit sehr beschäftigt ist, aber man sich bestimmt einmal treffen kann.

***

Trotz der vagen Nachricht hatte Mamoude nicht locker gelassen und so finden sich die beiden bereits eine Woche später auf dem grossen Platz über dem Bahnhof wieder.
"Ich habe dich so vermisst, Eva!", sagt Mamoude und gibt Eva eine lange Umarmung, die ein warmes Kribbeln in ihrem Bauch auslöst. Schon vor einiger Zeit hat sie sich in Mamoude verliebt und würde es ihm gerne gestehen, aber sie fürchtet sich vor einer gemeinsamen Zukunft und all den Hürden, die sie zu meistern hätten.
"Warum antwortest du nicht? Habe ich dir nicht gefehlt?" Mamoude hält Eva auf Armlänge, doch statt ihm eine Antwort zu schenken, lächelt sie ihn bloss schüchtern an. Sie schämt sich, dass bereits sechs Monate vergangen sind, seit sie sich zuletzt gesehen haben.
Wenn er bloss wüsste, wie viele Tagebucheinträge in dieser Zeit über ihn entstanden sind, denkt Eva.

Lächelnd sieht Mamoude Eva an und beugt sich dann ein Stück nach vorne, als wolle er sie küssen. Sie weicht aus.
"He! Bitte nicht!" Mit leichter Enttäuschung, die er zu verbergen versucht, vergräbt Mamoude sein Gesicht an Evas Hals und drückt ihr dort einen sanften Kuss auf. Eva geniesst diese Berührung, dreht sich jedoch trotzdem um und stützt ihre Hände auf das Steingeländer, um die Aussicht der Stadt zu betrachten. Mamoude löst sich von ihr und stellt sich neben sie.
"Bewunderst du die Natur?"
"Nein, die Stadt."
"Also die Natur."
"Nein, die Natur ist etwas anderes. Keine Gebäude. Dafür Bäume und Seen."
"Gebäude sind von Menschen erschaffene Natur."
Sie diskutieren und schliesslich gibt Eva auf. Eine Weile stehen beide schweigend nebeneinander und Eva wünscht sich, dass der Abend kein Ende nimmt.

"Du frierst ja!", stellt Mamoude plötzlich fest und zieht Eva wieder in seine Arme, "Komm her, ich wärme dich auf." Eva stellt fest, dass Mamoude recht hat und macht Anstalten, ihre Jacke aus der Tasche zu holen.
"Nein!", sagt Mamoude jedoch bestimmt. "Du brauchst keine Jacke, wenn du mit mir zusammen bist. Ich wärme dich auf." Er duldet keine Widerrede als er seine Arme um Eva schlingt. Ihre Hände legt er in die weiche Bauchtasche seines Pullovers. So betrachten sie gemeinsam den Sonnenuntergang.
"Ich möchte dich wirklich gerne küssen, Eva. Darf ich?" Langsam schüttelt Eva den Kopf und sieht Mamoude dabei aber nicht in die Augen. Sie würde so gerne ja sagen. Wie fühlte sich ein Kuss überhaupt an? Sie wollte immer auf den geeigneten Mann warten. Konnte dieser Mann denn wirklich Mamoude sein?

Gedankenverloren sieht Eva Mamoude an, betrachtet seine schönen schmalen Augen, die breite Nase, die dicken geschwungenen Lippen und seine unfassbar schöne schwarze Haut. Mamoude beugt sich zu Eva und seine Lippen berühren die ihren ganz sanft. Gleich darauf springen beide überrascht einen Satz nach hinten, während sie sich mit einer Mischung aus Entsetzen und Erstaunen anschauen.
"Tut... tut mir leid. Wirklich, Eva. Ich wollte nicht... es ist einfach passiert." Ein ungewolltes Lächeln stiehlt sich auf Evas Lippen aber sie wischt es mit einer Handbewegung weg.
"Schon... schon okay...", stammelt sie und schilt sich in Gedanken für ihren Unachtsam. Mamoude murmelt weiter Entschuldigungen und die Schmetterlinge in Evas Bauch scheinen explodieren zu wollen.

Da Mamoude sie nun nicht mehr umarmt, nutzt Eva die Gelegenheit um ihre Jacke aus der Tasche zu holen. Sie möchte ihm zeigen, dass es ihr für heute genügt.
"Lass uns für heute nach Hause gehen, ja? Ich wollte dich nicht bedrängen." Mamoude hatte sie verstanden und doch möchte Eva auf einmal noch länger bleiben. Sie könnten noch einen Nachtspaziergang machen oder irgendwo ein Glas Wein trinken. Warum nur bin ich zu schüchtern, ihn danach zu fragen, ärgert sie sich. Und viel zu stolz um zuzugeben, was ich empfinde?

Mamoude bringt Eva zu ihrem Zug. Am Gleis holt er tief Luft. "Eva... Du weisst, wie sehr ich dich liebe. Ich halte es kaum aus, dass du mich immer abblockst." Eva sieht den verzweifelten, sehnsüchtigen Blick in Mamoudes Augen. "Bitte sorge dafür, dass wir uns bald wieder sehen. Ich weiss, es lohnt sich, darauf zu warten, bis du bereit für mich bist."
Lächelnd verdreht sie die Augen und umarmt ihn zum Abschied. Mamoude drückt ihr einen Kuss auf die Wange und nimmt plötzlich ihre Hand, als sie einsteigen möchte.
"Warte." Eva dreht sich noch einmal um.
"Was ist?"
"Nichts. Komm gut nach Hause."
Die Tür schliesst sich und Eva setzt sich ans Fenster um noch einen Blick auf Mamoude zu erhaschen. Er schickt ihr einen Luftkuss zu und bildet ein Herz mit seinen Händen. Sie schaut weg, als sie lächeln muss.

(un)glückliche LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt