Panikattacke überwinden

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Christian Jürgens betrat das Dojo. Der Inhaber der Kampfkunstschule war ein kleiner, stämmiger Mann mit einem verschmitzten Lächeln. Er war Mitte vierzig, stand zu seiner Halbglatze und trug den schwarzen Haarkranz fünf Zentimeter lang, was ihm das Aussehen eines Samurais verlieh. Er war von Anfang an Katis Trainer gewesen, hatte ihre Höhen und Tiefen, Entwicklungen und Rückschritte verfolgt. Sie fragte ihn selten um Rat, aber wann immer sie ihn brauchte, war er für sie da. Kurz überlegte sie, ihn anzusprechen. In ihrem Ohr fiepte es und sie ließ den Gedanken fallen.

Tom setzte sich in den Aufenthaltsbereich, um dem Training zuzusehen.

Die elfköpfige Gruppe wärmte sich auf und übte verschiedene Grundtechniken. Katis Anspannung ließ merklich nach.

Für eine Übung, in der mit langen Stöcken gekämpft wurde, tat Kati sich mit Ricarda zusammen. Die beiden hatten etwa gleichzeitig mit Aikido angefangen und waren etwa gleich stark, obwohl Kati Ricarda überragte.

Christian machte eine Abwehrbewegung gegen einen Stockhieb vor. Er drehte sich mit einem Schritt zur Seite aus der Reichweite des Stocks und brachte den Angreifer mit den Händen aus dem Gleichgewicht. Es war eine elegante, komplexe Bewegung, die Ricarda und Kati seit Jahren übten. Ricarda nahm als Erste die Rolle der Angreiferin an, doch als sie den Stock zum Schlag hob, fing Kati an zu zittern. Hilflos und verloren stand sie auf der Matte. Ihre Freundin bemerkte es und wartete mit ihrem Angriff.

»Alles okay?«, fragte Ricarda.

»Was?«

»Hörst du mich?«

Katis Herz raste, sie konnte sich nicht orientieren und bekam plötzlich furchtbare Angst. Sie erwartete zu sterben.

»Leg dich hin, Beine hoch«, hörte sie Christians Stimme.

Er versuchte, sie sanft auf die Matte zu drücken, aber Kati verkrampfte. Sie würde sich unter gar keinen Umständen hinlegen.

Christian fühlte Katis Puls. »Dein Herz rast. Wenn ich nicht wüsste, was für eine gute Konstitution du hast, würde ich dich direkt in die Notaufnahme fahren.«

Katis Wahrnehmung verengte sich. Ihr Herz schlug hart und schnell gegen die Rippen, es kam ihr vor, als würden mehrere Kirchenglocken in ihrem Kopf läuten. Die bekannten Gesichter um sie herum konnte sie nicht mehr zuordnen. Sie schwitzte und zitterte. Ihre Zunge klebte am Gaumen, sodass sie nicht sprechen konnte. Es kam ihr vor, als betrachtete sie sich selbst von außen, spürte aber gleichzeitig das Vibrieren jeder einzelnen Körperzelle.

Plötzlich drang Christians Stimme zu ihr durch. »Panikattacke. Tief einatmen - anhalten - ausatmen - einatmen - anhalten - ausatmen.«

Kati stieß die Luft unregelmäßig aus, aber Christians gebetsmühlenartige Worte beruhigten sie.

Nach ein paar Minuten gelang es ihr, den Rhythmus, den Christian ihr ansagte, mitzumachen. Sie atmete erleichtert ein, hielt die Luft an und atmete wieder aus.

Tom drückte ihre Hand und lächelte. »Es wird alles gut, Kati. Keine Sorge, es kommt alles in Ordnung.« Er sah sie freundlich und gelassen an. Das machte ihr Mut.

An Katis anderer Seite war Christian. Er tippte mit den Fingerspitzen auf ihre Handkante und gab weiter den Rhythmus ihrer Atmung vor. »Einatmen - anhalten - ausatmen.«

Kati atmete mit und ihre Verwirrung legte sich. »Was ist passiert?«

»Wie geht es dir?«, wollte Christian wissen.

»Ich habe Herzklopfen.«

Der Trainer fühlte ihren Puls und nickte zufrieden. »So ist es schon besser. Du hast soeben so etwas wie eine Panikattacke überstanden.«

»Was habe ich?«

»Ich erkläre es dir später. Komm erst mal zu dir.«

Kati hatte keine Kontrolle über ihre Gliedmaßen. »Ich kann mich nicht bewegen«, sagte sie entsetzt.

»Keine Sorge, das kommt gleich wieder. Bleib ruhig stehen, rede mit uns.«

Christian beklopfte ihre Handkante mit seinen Fingerspitzen.

»Was tust du da?« Kati war irritiert.

»Das rhythmische Klopfen senkt den Kortisolspiegel, das heißt, es baut Stress ab.«

»Was?«

»Ich erkläre es dir später. Fühlt sich das gut an?«

»Ja.«

»Dann kann ich weitermachen?«

»Danke. Ist schon okay. Ich spüre meine Beine wieder.«

Christian fühlte noch mal ihren Puls. »So ist es besser.«

Kati verließ die Matte. Sie ging und hüpfte durch den Raum, schüttelte ihre Glieder und atmete tief, bis sie sich sicher war, dass alles funktionierte. Sie wäre gern nach Hause gegangen, aber sie traute es sich nicht zu. So ließ sie sich in einen Sessel sinken und klammerte sich an die gepolsterten Armlehnen.

Tom und Christian setzten sich zu ihr. »Was ist dir passiert?«

»Ich hatte Ärger mit einem Schüler.«

»Das stresst dich doch sonst nicht«, wunderte sich Christian.

»Die Klassenfahrt, der Streit. Es war zu viel.«

»Du kannst immer mit mir reden, wenn dich etwas bedrückt«, sagte Christian.

»Das weiß ich doch. Danke.«

Christian trat auf die Matte und das Training ging weiter.

Tom tätschelte freundschaftlich Katis Handrücken. »Ich bin hier. Direkt neben dir. Du brauchst nur die Hand auszustrecken.«

Kati nickte, aber sie brauchte all ihre Energie, um nicht zusammenzubrechen.

Er ließ sie in Ruhe, war einfach nur da. Das beruhigte sie, genau wie damals.

Als das Training vorbei war, fühlte Christian noch einmal Katis Puls. »Das ist viel besser so, aber noch nicht gut. Bitte klopf deine Handkante.« Er machte es ihr vor.

»Was soll das?«

»Die Technik nennt sich EFT, Emotional Freedom Techniques. Sie beruht auf einem Prinzip der traditionellen chinesischen Medizin. Dort geht man davon aus, dass Energiebahnen, die Meridiane, den ganzen Körper durchziehen. Bei negativen Gefühlen ist der Energiefluss blockiert. Durch Akupunktur oder Klopfen kann die Energie wieder fließen und die Gefühle beruhigen sich.«

»Es funktioniert«, lächelte Tom und klopfte seine eigene Handkante. »Christian hat es mir beigebracht. Ich verstehe zwar nicht, wie das alles zusammenhängt, aber ich fühle mich besser, während ich das tue.«

»Sagen wir mal so. Der sanfte Impuls des Klopfens sendet ein positives Signal ins Gehirn. Es werden weniger Stresshormone gebildet und du wirst sofort ruhiger«, erklärte Christian.

Kati klopfte ihre Handkante, so wie Tom und Christian es ihr vormachten, während die nächste Übungsgruppe sich auf der Matte warm machte.

Nach fünf Minuten seufzte Kati unwillkürlich. Ihre Schultern sanken.

»Ich fühle mich wirklich ruhiger.«

»Sag ich doch.«

Christian fühlte Katis Puls. »So ist es gut. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn du nicht allein nach Hause gehst.«

»Ich bringe dich heim«, sagte Tom.

»Das ist nett. Danke.«

»Gute Idee.« Christian lächelte. »Gibt es etwas, worüber du mit jemandem reden willst?«

Kati nickte. »Ja, aber sobald ich ins Detail gehen will, fallen meine Ohren zu und ich bin vorübergehend taub«, sagte Kati missmutig.

»Du weißt, dass ich als Traumatherapeut arbeite. Lass uns eine Sitzung verabreden, dann helfe ich dir, das zu verarbeiten. Du musst auch nicht über das Ereignis sprechen.«

»Ja, bei Gelegenheit gern«, sagte Kati halbherzig und stand auf. »Ich muss nach Hause.«

Habt ihr eine Idee, was mit Kati los ist?

Das Glück in der DunkelheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt