Den Schleier lüften

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Kati saß Christian in seinem Behandlungszimmer gegenüber.

»Meine Erinnerungen sind zurückgekehrt, aber es fällt mir schwer, daran zu denken.«

»Das ist in Ordnung. Wie sicher fühlst du dich jetzt und hier?«

»3.«

»Hast du etwas Schönes erlebt, das du zum Pendeln benutzen kannst?«

Kati fiel nichts ein. »Vielleicht noch mal der Sex mit Tom«, murmelte sie. Sie lenkte ihre Gedanken dorthin, lächelte kurz, aber die schmerzhafte Erinnerung an Luca überlagerte das Glück.

»Ich kann das gute Gefühl nicht halten.«

»Dass musst du auch nicht. Pendel ein paar Mal hin und her.«

Nach einigen Minuten fragte Christian: »Wie sicher fühlst du dich jetzt?«

»6«, sagte Kati, ohne zu zögern.

»Das reicht erst mal. Ich möchte nicht, dass du mir erzählst, was dich bedrückt. Denk dir einfach einen Titel aus, als wäre es ein Film und sag ihn mir«, schlug Christian vor.

»Entführung im Dschungel. Ich kann mich aber nur bruchstückhaft daran erinnern. Außerdem habe ich mit Luca, meinem damaligen Freund und Begleiter gechattet. Was er mir erzählt hat, lässt mich Schlimmes vermuten.«

»Was ist das für eine Bewegung deines Kopfes?« Christian machte ihr ein unmerkliches Nicken vor.

Kati imitierte und vergrößerte es.

»Meine Güte!« Sie sprang auf vor Schreck. »Ich habe einem Entführer einen Kopfschlag verpasst. Es war leicht, er reichte mir gerade bis zur Schulter. Damit er hat nicht gerechnet!«

Kati rutschte in die Erinnerung an den Dschungel.

Elf Studenten marschierten im Gänsemarsch durch das Dickicht. Schweiß rann von Katis Stirn in ihre Augen, aber sie konnte ihn nicht abwischen, weil ihre Hände hinter dem Rücken gefesselt waren. Die Moskitos umschwirrten ihr Gesicht, Kati schüttelte den Kopf, wie ein Pferd seine Mähne, aber ihre Haare blieben an den Wangen und am Kinn kleben. Die Mücken stachen auf sie ein. Es schmerzte auf der Nase, an den Schläfen und im Nacken. Sie wurde fast verrückt und hatte nur einen einzigen Gedanken. Entkommen.

Sie dachte nicht mehr an Luca, an die anderen, an die Hitze. Sie war ganz konzentriert, verkürzte ihre Schritte, beugte Rücken und Knie, um kleiner zu wirken. Drei Amerikaner überholten sie, ohne sie zu beachten. Jeder war mit sich selbst beschäftigt, einige zitterten vor Angst, andere wirkten abwesend. Alle Kolumbien-Reisenden kannten die Geschichten von Entführungen, die nur dazu dienten, Geld zu erpressen.

Für die Rebellen waren die Entführten lebendig wertvoller als tot, aber das beruhigte Kati nicht. Die halbautomatischen Gewehre und Pistolen machten ihr Angst. So etwas kannte sie nur aus Filmen und Serien.

Den Blick auf den Boden geheftet schlich sie vorwärts. Dann war sie die Letzte in der Reihe. Nur ein Entführer trennte sie noch von der Flucht.

Sie drehte sich ein wenig, sodass sie ihn sehen konnte, und musterte ihn aus dem Augenwinkel. Er war vielleicht achtzehn, 1,60 groß und drahtig, trotzdem wirkte er alt und müde, als würde er schon ewig durch diesen Dschungel marschieren. Unter seiner olivgrünen Kappe war sein Schädel kahl geschoren. Er trug sein Gewehr lässig, geradezu unachtsam über die Schulter gehängt wie ein Accessoire, das er nur aus Gewohnheit dabei hatte und kaum noch beachtete. Vermutlich war er kampfunerfahren und würde einige Sekunden brauchen, um auf Kati zu schießen.

Was immer sie tun würde, es musste sehr schnell gehen.

Der Junge beobachtete sie ebenfalls. Seine Blicke schweiften von ihren Brüsten in dem engen Top zu ihren langen Haaren und den hellen Beinen in den kurzen Shorts. Sie kannte diesen Gesichtsausdruck. Er war gerade nicht Herr seiner Sinne und sie würde das ausnutzen.

Das Glück in der DunkelheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt