Warten auf den Prozess

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Am Abend vor Toms Prozess saß Kati in der Küche und korrigierte Klassenarbeiten. Da kam Tom mit einem ordentlichen Blatt herein.

»Kannst du das bitte gegenlesen? Das ist meine Bewerbung für die Uni-Kantine.«

Kati las den Text in Ruhe. »Das ist elegant geschrieben. Lass mich raten, du hast im Knast viel gelesen.«

»Vor allem die Klassiker«, sagte Tom stolz.

Sie korrigierte drei kleine Fehler. »Willst du dich vor dem Prozess bewerben?«

»Nein, aber falls ich draußen bleiben kann, verliere ich keine Zeit.«

»Du glaubst inzwischen an einen Freispruch?«

»Niemand kann vorhersagen, was die Zeugen aussagen. Ich weiß aber, dass ich kein Schläger mehr bin. Außerdem fühle ich mich freier und freue mich auf meine Zukunft!« Er nahm ihr die Bewerbung aus der Hand. »Ich korrigiere das schnell«, sagte er im Hinausgehen.

Auf Katis Tablet erschien eine Nachricht von Luca.

Wollen wir reden? Es gibt gute Neuigkeiten. Ich ruf dich an. Im gleichen Moment wurde ein Video-Chat gestartet. Sie nahm das Gespräch an.

Luca saß in seinem Büro in der Uni und schaute erwartungsvoll auf den Monitor.

»Hallo Kati! Wie geht es dir?«

»Ganz gut«, sagte Kati.

»Mir geht es auch gut. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll zu erzählen!« Luca lachte sein Lachen von damals. Es schüttelte seinen Körper und steckte Kati an.

»Ich bin froh, dass ich neulich mit dir gesprochen habe. Da hat etwas in mir Klick gemacht. Glücklicherweise haben wir hier an der Uni guten Kontakt zu Therapeuten. Ich habe sofort einen Termin bekommen. Und was soll ich sagen! Deine Anregung war Gold wert. Es gibt wahnsinnig viel zu verarbeiten, aber ich hätte nie gedacht, dass das so schnell und schmerzlos geht! Ich erkenne jetzt, dass ich mit meinem Leben und meinem ewigen Leid schon abgeschlossen hatte. Nun sehe ich wieder Perspektiven. Ich denke sogar darüber nach, zu meinen Schwiegereltern nach Florida zu fahren! In die Sonne!«

»Das ist toll!« Kati erkannte den Mann, in den sie sich auf den ersten Blick verliebt hatte, wieder. Seine Bewegungen waren schnell, sein Gesichtsausdruck entspannt. »Du wirkst lebendiger als bei unserem letzten Gespräch.«

»Ich erobere mir mein Leben zurück. Es wird noch ein paar Sitzungen dauern, aber ich weiß, dass mir das gelingen wird.«

»So war es bei mir auch. Ich bin froh, dass es dir besser geht, denn jetzt kann ich die Sache auch abschließen.«

»Wollen wir in Kontakt bleiben? Irgendwann können wir vielleicht über damals reden.«

»Gern!« Kati hätte ihm gern erzählt, dass sie sich verlobt und mit ihrer Mutter ausgesöhnt hatte, aber er war so sehr in seinem eigenen Prozess, dass sie es auf später verschob.

»Dann mach's gut. Bis bald.« Er verabschiedete sich mit einem hinreißenden Luftkuss.

Kati machte einen Screenshot. »Bis bald!«

Lucas Bild verschwand vom Display, aber das Foto von dem Kuss, das sie gerade gemacht hatte, blieb.

Sie stand auf und ging zu Tom ins Arbeitszimmer. Er druckte seine Bewerbung aus.

»Guck mal bitte!« Kati hielt ihm das Tablet mit dem Screenshot von Luca hin.

»Wow! Der sieht ja toll aus.«

»Anders als bei unserem letzten Gespräch, oder?«

»Definitiv. Wie alt ist das Bild?«

»Eine Minute. Das habe ich gerade gemacht.«

Tom sah sie erstaunt an. »Wie kann das sein?«

»Er hat eine Traumatherapie begonnen.«

»Nicht schlecht.«

»Er wirkte auch viel lebendiger, hat viel und schnell geredet. Seine Augen haben geleuchtet wie damals.«

»Hey, du verliebst dich jetzt nicht wieder in ihn, ja?« Tom sah sie prüfend an.

»Nein!« Kati lachte. »Du siehst übrigens auch besser aus, seitdem du mit Christian arbeitest. Habe ich mich auch verändert?«

Tom lächelte. »Das kann ich nicht beurteilen. Ich liebe dich, egal, wie du aussiehst.«

Kati suchte ein Selfie von der Madrid-Reise heraus und verglich es mit ihrem Spiegelbild. »Ich sehe nicht mehr so verkniffen aus.« Sie war verblüfft.

»Du kommst mir fröhlicher und glücklicher vor. Das kann aber auch an deinem tollen Verlobten liegen«, sagte Tom schelmisch.

Sie setzte sich auf seinen Schoß und küsste ihn. »Das wird der Grund sein.«

In der Nacht hielten die Gedanken an den Prozess sie wach. Sie redeten, hatten Sex, dösten, hielten sich aneinander fest.

Am Morgen saßen sie übermüdet und erschöpft beim Kaffee.

»Wie hast du die Unsicherheit vor früheren Prozessen ausgehalten?«, flüsterte Kati.

»Betrunken oder bekifft. Da ging es nur noch darum, rechtzeitig da zu sein.«

»Ich bin froh, dass du nüchtern bist.«

»Das habe ich dir zu verdanken. Und den Therapiestunden bei Christian.«

»Ich bin stolz auf dich«, flüsterte Kati zärtlich. »Wie immer das ausgeht, du hast es verdient, frei zu bleiben.«

»Ja, das habe ich«, sagte Tom ernsthaft.

Kati verabschiedete sich. »Wir sehen uns nachher im Gericht. Yannick will auch kommen und mein Vater, also wundere dich nicht.«

»Mir wäre es lieber, wenn keiner da wäre«, widersprach Tom.

Kati zeigte ihm den Verlobungsring. »Du gehörst zur Familie. Jetzt wird nicht mehr gefragt, ob dir das recht ist oder nicht. Wir werden da sein!«

Tom musste lachen.

Das Glück in der DunkelheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt