Liebeskummer vergessen

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Tom saß an Katis Rechner und spielte. Sie umarmte und küsste ihn, aber er ließ die Augen nicht von der Rennstrecke.

»Augenblick. Warte. Ich gewinne dieses Rennen - nicht.« Seufzend beendete er das Spiel. »Was ist passiert? Du wirkst verändert.«

»Ich muss da mal ran«, sagte sie ungeduldig. »Ich habe mich bei Christian an eine unglaubliche Geschichte erinnert.«

Er machte ihr Platz, sie setzte sich und öffnete ihren Bilderordner. Schnell fand sie den mit der Aufschrift Kolumbien.

Als Nächstes fand sie sich im Internet wieder. Sie war verwirrt, wusste nicht mehr, weswegen sie sich an den Rechner gesetzt hatte. Sie wollte aufstehen und ins Wohnzimmer gehen.

»Willst du die Fotos jetzt gucken oder nicht?«, fragte Tom erstaunt.

»Ach ja, Kolumbien. Ich war gerade abgelenkt.«

Sie öffnete die Bildergalerie. Dabei wurde ihr flau im Magen. »Ich kann die nicht ansehen. Ich habe Angst vor dem, was ich da finden könnte.« Sie stand auf.

»Darf ich?«, fragte Tom.

»Wenn du etwas Beängstigendes siehst, behalt es für dich.« Kati setzte sich auf sein säuberlich gemachtes Bett. Ihre Gedanken flirrten umher, wanderten nach Kolumbien, zu Tom, ins Nirgendwo.

»Wer ist der hübsche, schwarzhaarige Mann?«, fragte Tom unvermittelt.

»Luca Motta, ein Lehreramtsstudent aus Miami, Florida«, sagte Kati prompt.

»Ein Urlaubsflirt?« Tom wirkte verstimmt.

Kati versuchte, sich zu erinnern. Ihr Herz raste, sie bekam kaum Luft. Sofort begann sie, an ihrer Handkante zu klopfen.

Tom drehte sich zu ihr um und klopfte aus Solidarität seine eigene Handkante. »Was ist denn los?«

»Ich kriege Panik. Das ist schon das dritte Mal, seitdem wir aus Madrid zurück sind.«

»Hat dieser Luca dir etwas angetan?« Tom war bestürzt.

»Nein. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber das garantiert nicht.« Sie atmete tief ein und aus.

Toms Handy klingelte. »Mein Anwalt. Das ist wichtig. Kann ich dich allein lassen?«

»Ich fühle mich sicher auf einer 4«, sagte Kati. »Ich klopfe und atme einfach weiter.«

Er sprang auf und lief hinaus. »Entschuldige.«

Kati stand auf, um das Deckenlicht anzumachen. Dabei fiel ihr Blick auf den Monitor. Sie sah ein Bild von sich selbst mit einem hübschen, dunkelhaarigen Mann an einem traumhaften Karibik­strand. Das schöne Paar strahlte glücklich in die Kamera.

Ein tiefer Schmerz traf Kati ins Herz.

Plötzlich erinnerte sie sich an Cartagena, eine kleine Stadt an der Karibikküste Kolumbiens. Die weißen Häuser am Meer reflektierten die gleißende Sonne.

Kati stand in der Schlange bei einem fliegenden Händler, der auf der Strandpromenade Fruchtsäfte zubereitete. Geschickt schüttete der Mann Maracujasaft aus einem Mixer in einen kleinen Plastikeimer und steckte einen Strohhalm hinein.

»Den müssen Sie mir bitte zurückgeben.«

»Selbstverständlich. Ich wollte keine Sandburg bauen«, gab der Kunde schlagfertig zurück. Sein Spanisch hatte einen unverkennbaren US‑amerikanischen Akzent.

»Pfand kostet er aber nicht?«, mischte Kati sich amüsiert ein.

Der Händler wusste nicht, wovon sie sprach, weil er kein Pfandsystem kannte.

Der Tourist lachte. »Sie sind Europäerin. Deutsche?«

Kati war fasziniert von seinen dunklen Augen und dem offenen Lachen. »Ja. Ich heiße Kati.«

»Ich bin Luca. Sehr erfreut.«

Während Katis Orangensaft frisch gepresst wurde, unterhielten sie sich. Luca studierte ebenfalls, um Spanischlehrer zu werden. Sie hatten viele Gesprächsthemen, schlenderten an der Promenade entlang und tranken mit Strohhalmen Saft aus ihren Eimerchen. Am gleichen Abend gingen sie aus, küssten sich vor Katis Hotel und verabredeten sich für den nächsten Tag. Von da an waren sie unzertrennlich.

Die schönen Erinnerungen machten Kati glücklich, aber das Wissen um ihre Trennung zerriss ihr das Herz. Sie pendelte absichtlich zwischen diesen starken Gefühlen und hielt den Liebeskummer unter Tränen aus.

****

Tom hockte plötzlich neben ihr und nahm sie tröstend in die Arme. »Meine Güte, was ist passiert? Warum weinst du?«

»Ich weiß wieder, wie ich Luca kennengelernt habe. Es war so schön mit ihm.« Sie schluchzte. »Ich habe seit Jahren nicht an ihn gedacht. Ich verstehe das nicht.«

Tom tätschelte still ihren Rücken, küsste sie auf die Wange und schließlich beruhigte sie sich.

Ihr Blick fiel auf das Foto und sie klickte weiter. Da waren Kati und Luca an malerischen Orten am Meer, im Dschungel und in den Anden.

»Es sind ganz normale Urlaubsfotos«, sagte Kati. »Dabei kämpften die Rebellen zu der Zeit noch gegen das Militär. Der Waffenstillstand war noch lange nicht absehbar.« Ihre Muskeln wurden hart wie Stein.

Tom sah sie verblüfft an. »Hast du etwas von dem Bürgerkrieg mitbekommen?«

»Ja. Wir sind entführt worden!« Sie versank in grünem Nebel.

Sie spürte ein sanftes Klopfen von Toms Fingerspitzen an ihrer Handkante und kehrte mit der Aufmerksamkeit in ihr Arbeitszimmer zurück.

»Ich erzähle es dir, bevor die Erinnerung wieder verschwindet.« Sie holte tief Luft.

»Luca und ich waren mit seiner Studiengruppe unterwegs zu einem abgelegenen Dorf. Ich hatte mich für ein Wochenende von meinen Kommilitonen getrennt und fand es spannend, mit den Amerikanern zusammen zu reisen. Leider gerieten wir schon nach ein paar Kilometern Fahrt in eine Umleitung und mussten eine nicht befestigte Straße durch den Dschungel nehmen. Ich hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl dabei, aber der Fahrer des Kleinbusses machte sich keine Sorgen oder war eingeweiht. Als der Wagen kurz hielt, wäre ich fast ausgestiegen, habe es aber nicht getan, weil ich bei Luca bleiben wollte.«

Sie sah die Bilder ihrer Erinnerung wie eine Diashow auf einer weit entfernten Leinwand und traute sich, weiterzuerzählen.

»Nach ein paar Kilometern hielt der Wagen auf einer Lichtung an. Fünf Männer mit Gewehren und Tüchern vor den Gesichtern rissen die Türen von außen auf. Sie schrien uns an, wir sollten aussteigen. Notgedrungen taten wir es und kletterten auf die Ladeflächen von zwei Jeeps. Dort wurden uns die Hände auf dem Rücken gefesselt. Dann ging es etwa eine Stunde über Stock und Stein in den Dschungel, ich konnte es auf Lucas Uhr sehen. Er war sehr ruhig und gefasst, genau wie ich. Einige der Frauen weinten, die anderen waren vor Angst erstarrt. Danach ging es zu Fuß weiter. Es war eine Tortur, die Hitze, die Feuchtigkeit, die Moskitos, aber ich habe jede Sekunde genutzt, um über Fluchtmöglichkeiten nachzudenken. Es hat funktioniert. Ich bin entkommen. Das alles hatte ich total vergessen.«

Tom beugte sich zu ihr und drückte sie fest an sich. »Das tut mir so leid. Ich bin für dich da.«

»Das weiß ich. Danke.« Sie seufzte unwillkürlich. »Ich kann nicht fassen, dass ich das heil überstanden habe.«

»Wie bist du geflüchtet? Ich meine, wie hast du es gemacht?«, fragte Tom neugierig.

»Ich habe mich in den hohen Farn fallen gelassen. Dort hat eine alte Bäuerin mich gefunden und zur Straße gebracht.« Sie erzählte ihm die Geschichte von ihrer Rettung.

Plötzlich wurde sie so müde, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. »Ich glaube, ich kann heute besser schlafen«, schloss sie.

Sie ging direkt ins Bett und schlief auf der Stelle ein. Mit einigen Unterbrechungen durch Albträume kam sie auf zehn Stunden Schlaf.

Das Glück in der DunkelheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt