21. Kapitel

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Alle waren in freudiger Erwartung auf den Weihnachtsball – sogar die jüngeren Schüler, die gar nicht an dem Fest teilnehmen durften. Nur ich nicht. Ballkleider, Schuhe, Frisuren und das Tanzen interessierten mich nicht die Bohne, ich hatte drängendere Probleme. Trotzdem konnte ich nicht umhin zu bemerken, wie das Schloss herausgeputzt wurde. Die zwölf Christbäume in der Grossen Halle, geschmückt mit allem Erdenklichen von leuchtenden Holunderbeeren, über rotbackige Äpfel, grosse, glänzende Weihnachtskugeln, filigrane, gläserne Figuren bis hin zu echtenen, schuhuhenden Goldeulen kannte ich ja bereits, aber auch der Rest des Schlosses wurde dekoriert. Natürlich erst, nachdem Filch überall gründlich sauber gemacht hatte – vermutlich mit fleissiger Unterstützung der Hauselfen. Jedenfalls war am Schluss nirgends im Schloss auch nur ein Stäubchen, eine Spinnhuppel oder auch nur ein klitzekleines Körnchen Dreck zu sehen. Sogar den Finjarellegemeinschaftsraum war blitzsauber geputzt. Und dann wurde geschmückt: An den Geländern der Marmortreppe wuchsen ewige Eiszapfen, über jedem Türsturz hatte man Mistelzweige angebracht, überall im Schloss flatterten kleine Lichterfeen und allenthalben fand man weitere Christbäume, wenn auch nicht so gross und nicht so prächtig dekoriert wie jene in der Grossen Halle. Auch die Rüstungen waren allesamt verhext worden und sangen Weihnachtslieder, wenn man an ihnen vorbeiging. Es war schon beeindruckend, einen leeren Helm, der die Hälfte des Textes vergessen hatte, 'Ihr Kinderlein kommet' singen zu hören. Filch, der Hausmeister, musste wiederholt Peeves aus den Rüstungen zerren, wo er sich gerne versteckte und die Lücken in den Liedern mit selbstgebastelten und allesamt sehr unanständigen Reimen füllte. Aber auch das Lachen darüber konnte mich nicht von meiner drängendsten Aufgabe ablenken: Ich musste dieses verdammte Ei aus dem See holen.

«Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben, wie ich dort hinunterkommen und das Ei herausholen kann, Jessie», quengelte ich zum gefühlt hundertsten Mal und fing mir dafür einen genervten Blick von meiner besten Freundin ein, die genau wie ich in den dicken Wälzern der Bibliothek blätterte. «Es muss doch irgendeinen Zauber geben oder irgendeinen Trank oder irgendetwas, das es möglich macht, unter Wasser nach dem Ei suchen zu können. Kann ich als Obscurus da runtergehen?», fragte ich Kaspar.

Kaspar starrte mich entsetzt an. «Adrienne ...! Ich weiss nicht, ob ein Obscurus auch unter Wasser zurecht kommt ... aber selbst wenn: Du kannst als Obscurus nichts greifen, also auch wenn du das Ei findest, kannst du es nicht mitnehmen. Aber das ist eigentlich nicht wichtig – hast du vergessen, was das letzte Mal passiert ist, als du deinen Obscurus beschworen hast?!»

Oh. Natürlich hatte Kaspar recht. Aber irgendwie musste ich dieses verdammte Ei da rausholen.

Mit einem lauten Bumms schlug Jessie den dicken Wälzer, indem sie geblättert hatte, zu. «Genau, Adrienne, hör auf Kasper», sagte sie, und dann: «Das hier hat keinen Sinn mehr – ausser du willst Madam Pince um Hilfe bitten.»

Ich spähte zu der Bibliothekarin, die griesgrämig und abweisend wie immer hinter der Theke sass, und verzog das Gesicht. Nein, nur im allergrössten Notfall würde ich sie fragen.

Jessie hatte meinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet. «Wenn du einen Zauber in Erwägung ziehst, könntest du vielleicht Professor Flitwick fragen ...», schlug sie unentschlossen vor.

«Oder Professor Finjarelle», sagte Kaspar überzeugt.

«Ja, das ist eine gute Idee, Kaspar», meinte Jessie. «Und wenn du einen Trank bevorzugst, ist natürlich klar, wen du fragen musst.»

«Wen?»

Jessie verdrehte die Augen. «Deinen Vater natürlich, also wirklich Adrienne.»

Ich beschloss, erst Finëa zu fragen und lief von der Bibliothek aus auf direktem Weg zu Finëas Gemeinschaftsraum. Zu meiner Überraschung traf ich dort nur auf Helena.

Unfriedliche Zeiten - Adrienne Seanorth 5Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt