Prolog

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CW: Gor, Blut, Tod

Sie hörte das Geräusch, noch bevor sie wusste, dass sie aufgewacht war. Ein rasselndes Atmen, das mit jeder Sekunde lauter wurde und in den langen Gängen des Schlosses widerhallte. Es war ein dunkleres, gefährlicheres Geräusch, als alles, was sie je gehört hatte. Nie würde sie es je wieder vergessen können.

Voller Angst lies sie sich von ihrem Bett rutschen und tapste auf ihren nackten Kinderfüßen zur Tür. Der weiße Marmorboden war eisig von der nächtlichen Kälte, die durch ihr offenes Fenster herein geweht war. Quietschend zog sie die Tür zu ihrem Gemach auf und lugte auf den Gang hinaus. Dort war alles wie immer. Zumindest auf den ersten Blick. Doch dann fiel dem Mädchen auf, dass die Wachen vor ihrer Tür und im gesamten Gang verschwunden waren. Wo warn sie nur hin? Die gähnende Leere des Schlosses und die unbehagliche Stille ließen ihr Herz schneller schlagen und ihre Augen unruhig nach einer Erklärung suchen. Hoffnungslos. Die Wachen vor ihrem Zimmer, die normalerweise wie Statuen da standen und die Gemächer der kleine Prinzessin beschützend, waren verschollen. Nur der Mond leistet ihr noch, wie jede Nacht, Gesellschaft und lies den Marmorboden strahlend erleuchten.

Flink huschte sie einige Gänge entlang. Der Weg zu dem Schlafgemach ihrer Eltern hatte sich über die Jahre unvergesslich in ihr Gedächtnis gebrannt, sodass sie keinerlei Probleme hatte, sich in dem Gewirr aus Gängen und Fluren zurecht zu finden. Mit einem weiteren lauten Knarren zog sie die schwere Holztür zu dem Gemach ihrer Eltern auf und lies sie hinter sich wieder ins Schloss fallen. Dann tapste sie auf ihren kalten Füßen über den Marmorboden und kletterte auf das Bett ihrer schlafenden Eltern, wo sie sich in die Mitte zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater in die Decken kuschelte.

Das rasselnde Atmen, das sie geweckt hatte, wurde wieder lauter. Sie verkroch sich tiefer in den seidigen Decken und den mit rotem Samt bezogenen Kissen, in denen sie sich sonst so sicher und geborgen fühlte. Das gleichmäßige Atmen ihrer friedlich schlafenden Eltern neben ihr, das sie normalerweise immer beruhigte, wenn sie nicht schlafen konnte, kam ihr auf einmal furchtbar laut vor. Und das große Bett war plötzlich nicht mehr ein Ort von Geborgenheit und Wärme. Schnell hämmerte ihr das Herz gegen die Brust.

Das Geräusch wurde immer lauter und lauter, bis es direkt vor der großen Schlafzimmertüre auf einmal verstummte. Die kleine Prinzessin horchte verängstigt auf.

Dann wurde die Tür mit einem so gewaltigen Schlag aufgestoßen, das sie aus den Angeln riss und mit einem ohrenbetäubenden Knall gegen die Wand krachte.

Das Mädchen schrie auf. Es war ein hoher und greller Schrei voller Angst, der für ein paar Sekunden sogar das laut rasselnde Atmens übertönte. Ihre Eltern waren aus dem Schlaf hochgeschreckt und starten in die undurchdringliche Schwärze, die ihnen aus dem Gang entgegenschlug.

Aus dem Flur kroch ihnen, wie ein eigenständiges Wesen, eine dunkle Nebelwand entgegen, die alles Licht verschlang, das auf ihrem Weg lag. Schwarze Nebelfetzen tasteten sich wie Hände immer weiter in den Raum und verdunkelten das Mondlicht, das durch eines der großen Fenster schien und zart gelbliche Kringel auf den Boden, die Bettdecke und die Wände malte.

Der Rauch schlängelte sich am Bett entlang bis zu ihnen hinauf. Er stieg in ihre Nase, brachte sie zum husten, schien sie zu ersticken. Auch ihre Eltern krümmten sich vor Husten und bekamen keine Luft mehr.

Durch einen Schleier aus Tränen erkannte das Kind den Umriss einer Gestalt die im Türrahmen stand, umgeben von dunklen Schwaden aus beißendem Nebel, die von ihr auszugehen schienen. Mit gesenktem Kopf betrat das Wesen das Zimmer und zog sein Schwert – einen gewaltigen schwarzen Krummsäbel der das Licht des Mondes in sich aufzusaugen schien.

Sie spürte, wie die Decke neben ihr zur Seite gezogen wurde und ihr Vater aufsprang. Er rannte zu der Wand an der seine Waffen hingen und zog das Schwert aus der an der Wand befestigten Scheide. Es war eine ehrwürdige und wunderschöne Klinge, die nur mit einem einzigen schwarzen Kristall am Griff verziert war. Ein Erbstück, das in ihrer Familie von Generation zu Generation mit dem Versprechen weitergegeben wurde, dem Land zu dienen und sein Volk zu beschützen. Das Mädchen betete, die Klinge möge auch jetzt ihre Familie beschützen.

In einer gekonnten Bewegung riss der König das Schwert über seinem Kopf in die Luft. Wie in Zeitlupe rannte er auf das dunkle Wesen zu und stieß mit der Klinge zu. Doch das Schwert glitt ohne den geringsten Widerstand durch den Körper aus Rauch hindurch und ihr Vater stolperte nach vorne. Noch ehe sie verstanden hatte, was geschehen war, riss das Ungeheuer seinen Säbel durch die Luft und zerschnitt dem König mit einer einzigen, fließenden Bewegung die Brust. Das kleine Mädchen sah, wie der Körper ihres Vaters in der Bewegung inne hielt, wie er in sich zusammensank und auf die Knie fiel. Sie sah die Wunde – lang und tief – so tief, dass sie meinte den Ansatz seiner Rippen hervorschimmern zu sehen. Und dann sah sie das Blut, das aus der klaffenden Wunde hervorquoll. Der Blick ihres Vaters, der den ihren suchte, war vor Angst und Schmerz verzerrt. Dann fiel sein lebloser Körper hart auf den weiß gefliesten Marmorboden. Blutrot und kaltes Weiß.

Sie bemerkte erst, dass sie die ganze Zeit über geschrien hatte, als sie damit aufhören musste, um sich erneut vom Husten geschüttelt zusammen zu kauern.

Der Nebel kam näher, wurde dichter und dann spürte sie, wie die kalten klammernden Hände ihrer Mutter von ihr weggerissen wurden. Der Körper der Königin, die sich schützend über sie gelegt hatte, verschwand und statt dessen bahnte sich der dunkle Rauch unerbittlich seinen Weg in ihre Lungen. Sie blickte auf, durch einen Schleier aus Tränen und in ihrem Gesicht klebenden Haaren.

Was sie sah war der von Blut überströmte Kopf ihrer Mutter, an den ebenholzschwarzen Haaren gehalten von einer aus Dunkelheit bestehenden Hand.

Eloen: Erbin von Eldora (Teil I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt