Licht und Dunkelheit

9 2 2
                                    

Neue Hoffnung durchströmte meine tauben Glieder. Wir mussten ganz nah sein. Wenn Deren mir sagen konnte, dass wir die Festung des Widerstandes erreicht hatten, mussten wir ganz nah sein, anderenfalls hätte er es in diesem schrecklichen Unwetter überhaupt nicht ausmachen können.

Mit meinen steifen gefühllosen Fingern tastete ich nach seinem Hemd und klammerte mich daran fest, voller Angst er könnte wieder aufstehen und mich hier alleine zurück lassen, alleine in der Dunkelheit in der ich mich so fürchtete.

„Wo?", meine Lippen bebten als ich ihm dieses eine Wort ins Ohr flüsterte. Ich wollte es ihm eigentlich über den heulenden Wind hinweg entgegen schreien, doch meine Stimmbänder versagten mir den Dienst und so entglitt mir nur ein raues Krächzen.

„Sie kommen, sie haben uns kommen sehen. Siehst du nicht die Lichter dort vorne?", ich verstand nicht, was er sagte, auch wenn ich jedes Wort klar und deutlich hatte hören können. Wer hatte uns gefunden? Wer wusste den, dass wir hierher unterwegs waren, es war unmöglich, dass jemand wusste, wo wir waren und dass wir Hilfe brauchten. Der Gedanke war zu schön, als dass ich in hätte ohne Weiteres zulassen können. Doch es musste stimmen. Denn ich sah die Lichter auch. Zuerst waren sie ganz klein gewesen, aber je länger wir hier der Kälte ausgesetzt waren, desto größer schienen sie zu werden.

In Phríosan hatte ich einmal eine Geschichte mitangehört, als ich mit einigen anderen Frauen gemeinsam in der großen Halle beim Essen gesessen hatte. Die Geschichte handelte von einem kleinen Jungen. Er war der Sohn einer armen Witwe. Doch die Witwe schied vor Kummer über den übereilten Tod ihres Mannes dahin und der kleine Junge blieb alleine und einsam zurück. Die Familien des Dorfes entschieden, ihn in das Arbeitslager ein paar Tage westlicher zu schicken. Keiner von ihnen konnte es sich leisten, den kleinen Jungen mit zu versorgen und dort würde er zumindest etwas zu Essen und ein Dach über dem Kopf haben. Doch das Arbeitslager richtete den kleinen Jungen zu Grunde. Nicht nur körperlich, durch all die schwere Arbeit, die er zu leisten hatte, sondern auch durch die dunklen Nächte und die einsamen Stunden in denen er niemanden hatte, der ihn in den Arm nahm und liebte. Eines Morgens, als er zu einem reißende Fluss gehen sollte, um frisches Wasser zu hohlen lies er den Eimer am Ufer stehen und lies sich selbst in die Fluten fallen. Das Wasser zerrte an seinen Kleidern und seinen dürren Gliedern und riss ihn mit sich in die Tiefe des Todes. Dort, ganz unten am Grund des reißenden Flusses war das Wasser fast still und die Schwärze war das einzige, was ihn umgab und dann, als das Wasser sich einen Weg in seine kleinen Lungen bahnte sah er das Licht. Es war ein kleiner Funke, der mitten aus dem schwarzen Nichts auf ihn zukam. Der kleine Junge hatte keine Angst, als die letzten Luftblasen aus seiner Nase in die Höhe aufstiegen, denn er wusste, dass dieser Funke Ava – seine Göttin – war, die kam, um ihn mit sich zu nehmen, an einen Ort, wo er geliebt würde.

Hätte ich nicht gewusst, dass ich durch den Fluch vor dem Tod geschützt war, hätte ich geglaubt dieses Licht sei die Göttin und das Unwetter mein Tod. Aber so schienen Derens Worte die einzigen wahren zu sein. Wir mussten unser Ziel erreicht haben. Es war kein Zeichen des Todes, dass dort zwischen den niedersausenden Regentropfen immer näher kam und immer heller leuchtete, es war ein Zeichen des Lebens.

Nun, wo ich mich auf den Lichtfunken in der Ferne konzentrierte schien er immer schneller auf uns zu zu kommen. Ich wagte während all der Zeit nicht, auch nur einmal zu blinzeln, in der paranoiden Sorge, das Licht könnte dann einfach verschwinden und uns hier alleine zurück lassen. Doch es verschwand nicht, und als es mir schon so groß, wie der Kopf eines Baumwichts vorkam konnte ich endlich den Schatten einer Gestalt dahinter erkennen, die dieses Licht zu halten schien.

„Liam, siehst du das! Wir sind gerettet! Liam!", er musste hier sein. Ich erlaubte mir nicht einen einzigen anderen Gedanken zuzulassen, jetzt wo ich wieder Hoffnung hatte. Er musste irgendwo hier ganz nah bei mir liegen. Vielleicht ein paar Meter entfernt. Höchstens ein paar Meter entfernt. Er hatte mich gehalten und vor dem Regen geschützt, er hatte mich gerettet, schon so viele Male, er musste noch irgendwo dort hinter den dunklen Schleiern aus Regen verborgen auf den Schuppen des Èsig liegen. Ich löste mich von Deren. Er schien zu begreifen, woran ich dachte, denn auch er sah sich nun suchend um, doch natürlich sah auch er Liam nicht. Gegen meinen eigenen Willen entfernte ich mich von dem rettenden Licht, dass immer noch auf uns Kurs hielt und begab mich auf die Dunkelheit vor mir zu. Mein Herz pochte schnell gegen meine Rippen, für eine Weile hatte ich selbst das nicht mehr gespürt, doch jetzt schmerzte mich das heftige Klopfen regelrecht in der Brust.

„LIAM!", ich schrie seinen Namen in den Sturm hinaus, auch wenn ich wusste, dass meine Stimme nicht weiter als einen Meter tragen würde.

„LIAM!LIAM!", hilflos sah ich mich nach allen Seiten um. Dann kroch ich vorsichtig auf meinen Knien weiter in die Dunkelheit hinein, die Hände vor mir ausgestreckt um nach seinem Körper zu tasten. Etwas zerrte von hinten an mir, ich blickte mich hektisch um, beinahe damit rechnend, dass das Licht uns erreicht hätte und unsere Retter mich nun mit sich weg von Liam zerren würden, der nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt liegen konnte. Doch das, was mich aufgehalten hatte war mein eigener Mantel, der sich in einer der rauen Schuppen verhakt hatte. Gewaltsam mit einer neuen Kraft, die ich nicht von mir erwartet hätte, riss ich an dem nassen Leder, welches riss und mich wieder frei gab. Dann tastete ich mich weiter in die Dunkelheit hinein.

Meine Hände stießen gegen eine Barriere. Mit den tauben Fingern konnte ich nicht fühlen was es war, doch mein Herz schlug mir bis in den Hals, in der Erwartung gleich Liams Gesicht vor mir aus der Dunkelheit auftauchen zu sehen.

Blitz. Donner. Dunkelheit. Ich erschrak und ein tonloser Schrei entglitt meiner Kehle. Eine Sekunde hatte gereicht. Eine Sekunde, in der der Blitz mein Umfeld taghell beleuchtet hatte. Es war tatsächlich Liam, der dort vor mir lag. Doch er sah nicht mehr so aus, wie ich ihn noch vor wenigen Stunden über die Karten gebeugt hatte dasitzen sehen.

Ich eilte die letzten Zentimeter auf allen Vieren zu ihm hin und beugte mich über sein Gesicht. Inzwischen war das große goldene Licht so nahe, dass es teilweise durch die Dunkelheit zu mir durchdrang und den Körper unter mir mit gespenstischen Schatten grauenhaft in Szene setzte.

Sein Körper lag mit Armen und Beinen von sich gestreckt rücklings auf den dunkel schimmernden Schuppen des Èsig. Die nasse Kleidung klebte durchscheinend an seinem bleichen Körper und das flackernde Licht hinter ihr warf große Schatten auf seine Rippen und sein Schlüsselbein. Doch was mich tatsächlich an den Rand des Grauens trieb war sein Gesicht. Schwarze Schatten unter Wangen und Augen ließen es eingefallen und mager wirken. Die nasse Haut glänzte aschfahl. Seine Lippen von einem dunklen Blau. Seine Augen halb geöffnet halb geschlossen.

Mit meinen tauben Händen versuchte ich nach ihm zu greifen und ihn wach zu schütteln, doch er reagierte nicht auf mein Flehen und Bitten. Fast als wäre er gar nicht mehr bei mir. Langsam erfroren in der Kälte.

Jemand griff nach mir und zog mich weg von seinem leblosen Körper. Ich stemmte mich dagegen, ich musste bei ihm bleiben, er würde bestimmt gleich die Augen ganz öffnen und mit seinem schiefen Grinsen zu mir aufblicken und dann würde ich da sein und ihn in meinen Armen halten. Doch die Hände, die nach mir griffen waren stärker als mein Wille und so entglitt mir schließlich seine blasse Hand, die ich verzweifelt festgehalten hatte.

„NEIN! NEIN! Lasst mich los! Lasst mich bei ihm!", ich schrie und wehrte mich, doch aus meinen Lungen kam nicht mehr als ein ersticktes Keuchen und mein geschundener Körper konnte sich nicht zur Wehr setzten und so gab ich schließlich auf, den Blick starr auf den Körper vor mir Gerichtet, der langsam wieder Stück für Stück meinem Sichtfeld entglitt.

Immer mehr Licht umgab mich, sodass ich trotz des Unwetters meine Umgebung deutlicher ausmachen konnte. Wie in Trance schien ich mir selbst dabei zuzusehen, wie ich von starken Händen von dem Rücken des Èsig gezogen wurde, dann kamen meine Beine hart auf festem Stein auf. Verwirrt und etwas erschrocken blickte ich zu Boden: Felsen. Gestein. Deren hatte recht. Dieser Gedanke schwebte ganz leicht durch meinen Kopf. Während ich so schlaff in den Armen eines Unbekannten hing spürte ich nur noch die schmerzhafte Erleichterung. Wir waren in Èllenllas angekommen. Aber gegen welchen Preis. In dem schaurig gelben Licht, das von Regentropfen durchzogen und verzerrt wurde konnte ich sehen, wie drei Männer sich abmühten, die entkräfteten Körper der Zwillinge von dem Rücken unseres treuen Fisches zu ziehen. Ich konnte nicht mehr ausmachen, ob in den dunklen Schatten der Nacht noch weitere Unbekannte dort bei uns waren, um Liam zu retten.

Mein Körper war geschwächt und mein Inneres zerrissen. Ich fühlte so viel Schmerz, dass ich schon gar nicht mehr sagen konnte, ob es überhaupt noch Schmerz war oder einfach nur der Nachhall dieses Gefühles. Alles tat mir weh, aber ganz besonders meine Brust. Dort wo mein Herz sich in das von Liam verliebt hatte. Der Fluch hatte mir schon jetzt so viele Menschen genommen, die ich liebte. Ich hatte gehofft, Liam etwas länger behalten zu dürfen. Vielleicht sogar für immer. Doch immer, wenn ich begann zu hoffen und an ein glückliches Ende für mein Volk zu denken, raubte die Dunkelheit des Fluches einem weiteren Menschen, den ich liebte das Leben.


Eloen: Erbin von Eldora (Teil I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt