Angriff

9 1 3
                                    

CW: kleines bisschen Gor und Blut und Tod

„Wenn wir heute Nachmittag zügig vorankommen und keine Pause mehr einlegen, sollten wir bis heute Abend die Klippen erreichen.", eröffnete Liam den Zwillingen und der kalte Wind trug seine Stimme bis zu mir nach hinten. Erleichtert atmete ich auf. Das andauernde Wandern durch immer gleich bleibende Wiesen und Ödland machte mich noch verrückt. Es war eintönig und man hatte nicht das Gefühl auch nur einen Meter vorangekommen zu sein, wenn man sich abends erschöpft hinlegte, um zu schlafen. Die Aussicht, dass die harten und steinigen Böden, an die ich mich über die Wochen hinweg bereits gewöhnt hatte bald der Vergangenheit angehören würden und ich in nur wenigen Tagen vielleicht sogar in einem richtigen Bett würde schlafen können war nur ein kleiner Trost neben meiner immer größer werdenden Nervosität. Trotzdem blickte ich nun mit neuer Motivation auf die Ebene, die sich vor uns erstreckte. Unendliche Landschaft ohne Ende. Ich hätte mir nie erträumt, dass die Welt so groß war, als Kind nicht und als Gefangene in Phríosan erst recht nicht.

Ich spürte einen leichten Windhauch neben mir aufkommen, als Liam sich zu mir gesellte, nahe genug, dass ich seine Körperwärme spüren konnte. Sanft schlossen sich seine Arme um mich und ich spürte, wie er mich im Nacken küsste. Ein leichter Glücksschauer durchflutete mich und ich musste lächeln. Vielleicht hatte er recht gehabt, heute Morgen. Vielleicht war die Angst unser größter Feind und alles was wir tun konnten war, unser bestes zu geben und dabei so viele schöne Momente wie nur möglich mit uns zu nehmen. Ich drehte mich um und blickte in seine Augen. Die Zwillinge hatten sich ein oder zwei Meter entfernt und schienen in eine rege Unterhaltung vertieft zu sein. Deren ging es zum Glück mit jedem Tag besser und so kehrte ihr altes chaotisch selbst wieder zurück.

Eine weile gingen wir so schweigend nebeneinander her, unsere Arme ineinander verschlungen, als hätten wir bereits unser ganzes Leben so nah beieinander verbracht.

„Ich frage mich, wo Morgan und Sina jetzt wohl sind." überlegte ich auf einmal, die ganze Zeit über hatte ich keinen einzigen Gedanken an die beiden verschwenden können, weil mir selbst so viel zugestoßen war, doch jetzt drängte sich die Frage zurück in mein Gedächtnis.

„Ich weiß nicht, wahrscheinlich sind sie bereits dort angekommen, wo sie hinwollten, haben sich eine kleine Wohnung gemietet, waschen ihre Wäsche, wie alle anderen am Samstag und gehen wie alle anderen am Freitag auf den Markt.", meinte er.

„Denkst du, sie sind glücklich, da, wo sie jetzt sind? Denkst du nicht, es wird genau so sein, wie in Baihle?", wollte ich wissen. Ich wusste genau so gut, wie Liam, dass eine ehrliche Antwort auf diese Frage wohl kaum möglich war. Vielleicht waren die beiden ja auch schon längst tot. Über den Haufen gerannt von irgendwelchen bösen Goll, abgeschossen von Menschen oder vergiftet von bösen Hexen. Ich konnte nicht weiter daran denken.

„Ja, ich bin mir sicher, dass es ihnen gut geht.", antwortete Liam mir und die Gewissheit, mit der er es sagte, die Art, wie er fest in meine Augen blickte überzeugte mich. Ich wollte es glauben, ich musste es einfach glauben, denn etwas anderes konnte ich mir einfach nicht vorstellen. „Morgan ist klug und Sina lernt schnell, ich bin mir sicher, dass sie es geschafft haben, wir haben überall Verbündete, sie werden dort nicht alleine sein."

Eine Weile schwiegen wir beide. Dann sprach ich endlich das aus, was mir schon seit tagen auf der Zunge lag, genauer gesagt, seit dem Tag, an dem ich gemerkt hatte, dass ich für Liam mehr empfand, als mir in dem Moment lieb gewesen war.

„Ich habe mir in Phríosan geschworen, nie mehr jemanden zu lieben. Es hat zu sehr weh getan. Ich dachte immer, Liebe macht schwach und verwundbar und jetzt muss ich andauernd darüber nachdenken, was du heute Mittag gesagt hast und ich weiß auch nicht. Ich denke, ich bin verwirrt. Was nützt es, Prinzipien aufzustellen und zu versuchen, sich daran zu halten, wenn man sie irgendwann ohnehin wieder über den Haufen wirft, weil man seine Meinung geändert hat?"

Eloen: Erbin von Eldora (Teil I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt