20. - Adiós

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22.07.2019
Sendai – Miyagi – Japan 
>POV: Tooru Oikawa<

Was sollte ich tun? Wie sollte ich reagieren? Wie sollte ich mich verhalten? Wie er wohl aussah? War er gewachsen? Hatte sich sein Aussehen stark geändert? Hatte sich etwas an seinem Charakter geändert? War er reifer geworden? Würde er mich noch als einen Freund behandeln? Sollte ich ihm sofort alles erklären? Was sollte ich tun? Wie sollte ich ihn eigentlich begrüßen? Ein Handschlag oder doch nur ein nervöses Lächeln oder gar eine Umarmung? Sah ich okay aus? Was war, wenn es zu einer unangenehmen Stille kommen würde? Sollte ich auf ihn zu gehen oder wie sollte das jetzt ablaufen?
  Meine Kehle brannte. In den letzten Tagen hatte ich mir zum Einschlafen Szenarien ausgedacht. Nein, ich hatte jede freie Sekunde darüber nachgedacht. Ich war so viele Möglichkeiten durchgegangen, wie ich mit ihm reden sollte und über was. Ich hatte über Konversationen philosophiert, sein Aussehen in Gedanken konstruiert, das Wiedersehen geplant und mir die Hochzeit vorgestellt. Das war das Schmerzhafteste von all dem. Ja, meine Seele brannte dabei und das nicht nur, weil ich es so plötzlich erfahren hatte, sondern weil ich mir diesen Gefühlen nach so einer dummen langen Zeit bewusstwurde. Jetzt war es zu spät. Ich konnte kaum ihm meine jugendlichen Gefühle offenbaren, schließlich war das alles Jahre her und wir waren wieder nahezu Fremde. Und dieser Aspekt tat auch schrecklich weh. Ich litt darunter. Doch das war die Realität, zu der es niemals hätte kommen müssen. Wäre dieser alte Mann nicht und wäre mein riesiges Ego nicht, das so vieles verhindert hatte. Ich hatte mich in die Arbeit gestürzt und ihn vernachlässigt, das Dümmste dabei war wohl, dass ich das alles für ihn tat. Ich hatte seine aktuelle Nummer nicht mehr, dazu ihn aus sozialen Netzwerken aus den Augen verloren und ihn aus meinem Leben eliminiert, obwohl ich das nie wollte. Das hatte zu dieser Situation geführt, dass ich nun mal wieder Zuhause war, in meinem Heimatland am Flughafen. Ich wartete auf meinen Sandkastenfreund, der bald heiraten würde. Meine Karriere nahm ein Höhenflug, dabei opferte ich eine Freundschaft und Liebe, aber durch diese Opferung gewann er anscheinend seine große Liebe und schaffte es sein Leben bis zu einer Hochzeit zu führen.

Und auch jetzt ratterte mein Kopf.
  Ich atmete tief ein und schloss meine Augen. War er schon hier und hatte mich vielleicht nur nicht erkannt? Vielleicht-...
  „Oikawa Tooru!" Eine kräftige Stimme drang in meinen Gehörgang. Mein Herz begann zu rasen und meine Haut zu schmelzen. Da war er... Da war Iwaizumi Hajime nach etlichen Jahren. Aber nicht nur ihn wieder zu hören war ungewohnt, selbst meine Muttersprache klang anders als sonst. Liegt vielleicht auch daran, dass nach all der Zeit selbst meine Gedanken eine Fremdsprache sprachen. Ja, alles ließ gerade seltsame Emotionen aufkochen.

Breite Schultern und muskulöse Arme. Eine selbstbewusste Körperhaltung. Ein klarer Athlet in sportlich enger Kleidung. Seine Muskeln des Oberkörpers wurden durch einen schwarzen, perfekt anliegenden Stoff betont. Seine kräftigen Beine waren versteckt durch eine lockere grüne Stoffhose aus Leinen. Und für einen Japaner hatte er noch immer diesen schönen braunen Teint. Ja, der Körper war Iwaizumi, nur sportlicher als aus der Oberstufenzeit. Und seine Körpergröße blieb unverändert. Ach...
  Genauso wie seine so schönen kräftigen grünen Augen, die einen wunderbaren japanischen Wald aus dem Hochsommer widerspiegelten. Das Tor der Seele des Jungen, den ich einst so gut kannte. An schweren und guten Tagen sah ich sie an und sie gaben mir Halt. Sie schenkten mir Wärme. Eine Flut übermannte mich. Sein Gesicht war jedoch kantiger und reifer als zuvor. Seine Züge waren schärfer. Dieser Iwaizumi war erwachsener geworden. Ich erinnerte mich noch so gut an dieses weiche Gesicht von damals. Doch beide trugen diese Zielstrebigkeit und Energie in sich. Dieser Hajime Iwaizumi war eine reifere Version des Jungen.
  Mein Herz schmolz dahin. Er war natürlich attraktiv.

„Ich dachte, ich sehe dich erst in zehn Jahren, aber nach knapp fünf Jahren ist es auch okay", er sagte das so humorvoll, obwohl es so ein furchterregendes Thema war. „Verzeih mir diesen Kommentar, aber das hast du verdient." Sein Lachen war so herzhaft und ehrlich. Gott, das hatte ich so vermisst. „Guck nicht so verdutzt, Tooru." Mein Name aus seinem Mund klang so anders, so herzerwärmend. „Komm her!" Er riss mich in seine Arme und erst jetzt realisierte ich, dass ich um einiges größer war als er. Damals war es kein Riesen Unterschied, doch nun merkte ich es.
  Er seufzte. Und nun realisierte auch mein Körper den seinen. Jeder Zentimeter meiner Selbst glühte. Mein Herz raste und das könnte mich durchdrehen lassen. Nein, ich erlitt schon einen Kurzschluss!
  „Rede doch mal mit mir. Oder hast du japanisch verlernt?", neckte er mich und ging wieder einen Schritt auf Abstand, um mich zu mustern. Die Wärme verschwand wieder... Ich unterdrückte ein Seufzen.
  „Gott, hör endlich auf zu wachsen!" Er klopfte mir auf die Schulter und ich erschrak. „Ey, Iwa-chan, nicht so grob!", brach es aus mir heraus. 

AdiósWo Geschichten leben. Entdecke jetzt