Gewohnheitstier

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Mali spürte den kühlen Wind auf ihrer Haut, spürte wie er durch ihr dünnes Sommerkleid huschte und ihren Körper mit einer zarten Gänsehaut überzog. Sie atmete tief durch, strich sich eine ihrer hellbraunen Locke aus dem Gesicht, die sie bereits seit einer Weile an der Nase kitzelte. Allein der Gedanke an die für diesen Tag gemeldeten 29 Grad hatten sie dazu veranlasst ihre Jacke zu Hause zu lassen, doch die Rechnung hatte sie ohne den noch immer kühlen Morgenwind gemacht. Sie beschleunigte ihre Schritte, konzentrierte sich auf die gewohnten Geräusche ihres Weges, den sie nun seit fast zehn Jahren täglich passierte. Sie kannte jeden Stein, jede Wand, jeden Bordstein, diesen einen Poller, welcher ihr zu Beginn immer wieder aufs Neue einen blauen Fleck verpasst hatte. Sie schmunzelte, sie kannte jedes Vogelzwitschern, jedes noch so kleine Geräusch der an die kleine wenig befahrende Seitenstraße grenzenden Baumes, das Rascheln der Blätter, das Knacken der Äste. Sie liebte es ihrer Umgebung zu lauschen. Es war ihre Art die Welt wahrzunehmen, sie zu ‚sehen'. Sie kannte es nicht anders. Eine gute Freundin hatte sie einmal gefragt, ob sie es nicht vermisse zu sehen, doch wie konnte man etwas vermissen, was man nicht kannte. Sie hatte früh gelernt sich auf ihre anderen Sinne zu konzentrieren. Sie hörte Dinge, die ein Sehender nicht hörte, roch Dinge, die ein Sehender nicht roch, fühlte Dinge, die Sehenden vollends verborgen blieben. Warum also sollte sie die Fähigkeit zu sehen vermissen oder ihr gar nachtrauern, wenn sie mit Fähigkeiten gesegnet war, die anderen Menschen verborgen blieben. Erneut schmunzelte sie. Ihre Mutter hatte in ihrer Erziehung ganze Arbeit geleistet, sie immer bestärkt, ihr gesagt, dass sie keine Einschränkung hatte, sondern eine Gabe, die sie zu etwas Besonderem machte und sie hatte Recht. Sicher barg der Alltag Herausforderungen, aber tat er das nicht bei jedem Menschen? Ob nun sehend oder nicht?

Mit einem Lächeln auf den Lippen betrat Mali das kleine Eckkaffee, in dem sie Morgen für Morgen einkehrte, um sich einen Cappuccino und einen weißen Muffin mit kleinen Schokostückchen zu bestellen. Sie war ein Gewohnheitstier. Jeden Tag die gleiche Routine, jeden Tag der gleiche Weg bis ins kleinste Detail. Es durfte nichts abweichen, nichts den Standort verändern, denn bereits eine noch so kleine Veränderung konnte für sie zu einer unvorhergesehenen Stolperfalle werden.

Kaum hatte sie die Tür geöffnet strömte ihr das angenehme Kaffeearoma, gepaart mit dem süßen Duft von frisch gebackenem Gebäck in die Nase, der ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Einfach himmlisch! „Guten Morgen, Mali", vernahm sie Sörens freundliche gut gelaunte Stimme. Tag ein Tag aus, stand er in seinem kleinen Kaffee und verbreitete gute Laune. Es war sein Herzstück, sein Lebenstraum und das spürte man sobald man nur einen Fuß in diesen Laden setzte. „...wie immer?", fuhr er fort, während Mali vortrat, an der Theke stoppte, als sie das weiche Holz der Ablage unter ihren Fingern spürte und ihren mitgebrachten Bambusbecher abstellte. „Guten Morgen, natürlich, ohne mein Lebenselixier geht nichts...das weißt du doch.", erwiderte sie ebenso gut gelaunt, zückte ihren Geldbeutel und legte ihn vor sich ab. „Findest du nicht, dass es am Morgen ohne Jacke noch ein wenig zu kalt ist? Ich friere ja schon, wenn ich dich nur ansehe", witzelte Sören mit amüsierter Stimme. Mali zuckte mit den Schultern: „Um ehrlich zu sein habe ich diesen verflixten Wind nicht kommen sehen", witzelte sie, was ihr Gegenüber herzhaft auflachen ließ: „Oh Gott Mali, ich liebe deinen Eigenhumor."

Grinsend schüttelte sie den Kopf: „Nimmst du dir das Geld? Es müsste genug im Kleingeldfach sein". „Natürlich, Sonnenschein!", erwiderte Sören mit seinem kehligen Lachen, bevor sie das metallische Klimpern der aneinanderstoßenden Münzen vernahm. „Danke, Kaffee und Muffin sind direkt vor deiner Nase.", fuhr er fort, wobei sie sein Lächeln förmlich hören konnte. Es war jeden Morgen ein kleiner Lichtblick. „Ich danke dir, bis morgen", erwiderte sie, griff gewohnt nach ihrem Kaffee und ihrem Muffin, drehte sich beflügelt durch ihre gute Laune herum und prallte gegen einen unerwartet harten Widerstand. Intuitiv ließ sie Kaffeebecher und Muffin fallen und griff nach dem was sie zu packen bekam, um nicht gänzlich das Gleichgewicht zu verlieren und auf dem Boden zu landen. „Können Sie nicht aufpa...", knurrte eine tiefe Stimme, die jedoch abrupt abbrach, als sie ihren Blick hob. Für einen Augenblick hielt er inne „...oh...das ....ähm.... Verzeihung", fuhr er leise fort, wobei sich seine Stimmlage merklich verändert hatte, beinahe gebannt wirkte. Mali spürte regelrecht, wie ihr Gegenüber sie musterte, spürte ein seltsames Kribbeln welches sich unter ihrer Haut auszubreiten schien, während sie den unglaublich feinen Stoff, nebst Knopfleiste unter ihren Fingern wahrnahm. Ein Hemd! Ein vermutlich unverschämt teures Hemd. Unbewusst, jedoch von ihrer Neugier getrieben, bewegte sie ihre Fingerspitzen zart über ihren Untergrund, spürte seine harte definierte Brust, die eine außergewöhnliche Wärme ausstrahlte, während sie dieser angenehme herbe, dennoch frische Duft an der Nase kitzelte. „Entschuldigung", entfuhr es ihr peinlich berührt, bevor sie hastig einen Schritt zurückwich. „Alles gut, Mali?", drang Sörens Stimme an ihr Ohr, welcher sich ihr zu nähern schien. „Können Sie nicht aufpassen, Sie...", fuhr er den fremden Mann an. „Sie ist doch wohl offensichtlich in mich hineingelaufen. Manchmal hilft es die Augen aufzumachen", verteidigte sich der unbekannte Mann mit fester selbstsicherer Stimme, eine Stimme, die etwas in ihr auslöste, etwas was sie nicht einordnen konnte. „...manchmal auch nicht, Sie Idiot. Die junge Dame ist blind", sprudelte es aus Sören hervor. So ruhig er auch war, so impulsiv konnte er sein, wenn es um Menschen ging die er mochte und zu diesen Menschen zählte Mali inzwischen zweifelsfrei. Mit einem Mal wurde es still. Erneut spürte sie Blicke auf sich, konnte jedoch nicht einordnen, welche. War es Sören? War es der Unbekannte? Waren es die anderen Gäste. Unbehagen machte sich in ihr breit: „Ist es arg schlimm?", erkundigte sich Mali und spürte wir ihre Wangen zu glühen begannen. „Deinem Muffin geht es soweit gut, aber deinen Kaffee hat es hart getroffen", sagte Sören mit ruhiger Stimme, wobei sie ein zartes Schmunzeln erahnen konnte, und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Komm ich mach dir einen Frischen. Den Muffin frühstücke ich später. Bekommst natürlich einen Neuen, Sonnenschein". „Danke Sören", lächelte sie dankbar und ließ ihre Hände über den dünnen Stoff ihres luftig leichten Kleides wandern. Sie wollte sichergehen, dass ihr nicht doch ein peinlicher Kaffeefleck entgingt. „Keine Sorge, der Kaffee ist auf dem Hemd und dem Jackett deines Gegenübers gelandet", lachte der Kaffeebesitzer leise, wobei ihr die Schadenfreude in seiner Stimme ihr förmlich entgegensprang. „Ist schon in Ordnung.", hörte sie die Stimme des fremden Mannes nun schräg hinter sich. „Ich wusste nicht, dass...". Lächelnd drehte sich Mali zu ihm um, orientierte sich an seiner Stimme, an dem leisen Geräusch seiner Atmung, sodass sie ihren Blick nun zielsicher auf ihn richtete. Sie hatte gelernt Menschen anhand kleinster Geräusche zu orten, sie zu fokussieren, sie ‚anzusehen' ohne sie zu sehen. „Vermutlich wäre es genauso passiert, wenn ich Sie gesehen hätte", erwiderte sie keck und zuckte mit den Schultern. Sie hätte ebenso aufpassen müssen!

„Ich nehme einen schwarzen Kaffee und einen Tomate Mozzarella Bagel, zum Mitnehmen bitte", bemerkte ihr Nebenmann ihren Spruch ignorierend. Lächelte er? „Ähm, das ist zu viel", vernahm sie Sörens irritierte Stimme. „Ein Bagel, ein schwarzer Kaffee, ein Cappuccino, ein Muffin und der Rest ist für Sie.", erwiderte der Unbekannte selbstverständlich. Bevor Mali jedoch das Wort ergreifen konnte, ergriff Sören das Wort: „Nein, nein. Das passt schon....Malis geht natürlich aufs Haus". Für einen Augenblick herrschte Stille, wobei sie erneut einen Blick auf sich spürte. Seinen Blick! „Ich bestehe darauf". Seine Stimme war fest, entschlossen, beinahe autoritär, was auch Sören lediglich ein leises verdutztes „Vielen Dank" entlockte. Wer war dieser Mann? Das leise Rascheln einer Tüte drang an ihr Ohr, bevor ihr Nebenmann erneut das Wort ergriff, ihr erneut sein angenehmer Duft in die Nase stieg: „Ich muss los, so kann ich nicht in meinen Meetings erscheinen.", stellte er etwas in Eile fest. „Das Hemd war teuer, habe ich Recht?", ergänzte sie nach kurzem Zögern, was auch ihn in seiner Bewegung innehalten ließ. „Das...das ist nicht der Rede wert.", erwiderte er offensichtlich irritiert, was sie schmunzeln ließ. „Woher...?", setzte er weiter an, bevor Mali ihm ins Wort fiel: „Ich sehe anders", konterte sie lächelnd. „...ich übernehme natürlich die Reinigungskosten", fuhr sie selbstverständlich fort. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Mali", erwiderte er, ohne auf ihre Worte einzugehen, bevor sich das klackende Geräusch seiner Absätze, seines selbstbewussten Gangs, auf dem Holzparkett von ihr entfernte.

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Etwas in Eile betrat Luc das kleine Eckkaffee, warf erneut einen Blick auf das silberne Ziffernblatt, welches mit einem cognacfarbenen Leberband sein Handgelenk zierte. Er war spät an! „Ich danke dir, bis morgen", hörte er die Stimme der jungen Dame vor sich, welche sich in einer fließenden Bewegung herumdrehte und schnurstaks in ihn lief. Erschrocken ließ sie den Muffin aus ihrer Hand fallen, löste den Griff um ihren Kaffeebecher, während sich die heiße Flüssigkeit auf seinem weißen Hemd, seinem grauen Jackett verteilte, und krallte sich regelrecht in den Stoff seines Hemdes. „Können Sie nicht aufpa...", entfuhr es ihm harsch, stockte jedoch schlagartig, als die junge Frau vor ihm ihren Blick hob, er in außergewöhnliche bernsteinfarbene Augen sah. „...oh...das ....ähm.... Verzeihung", fuhr er beinahe sprachlos fort, gebannt von den Augen dieser Frau, diesen sanften feinen Gesichtszügen, ihren wirren hellbraunen Locken. Unbeirrt ruhten ihre Hände auf seiner Brust, bis sie sich zaghaft, kaum merklich in Bewegung setzten, als würden sie den Stoff seines Hemdes ertasten wollen. Sie schluckte merklich: „Entschuldigung", entfuhr es ihr peinlich berührt, bevor sie hastig einen Schritt zurückwich.


Blind - Eine andere Sicht der DingeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt