„Guten Morgen", grüßte Mali, als sie die Physiopraxis betrat, in der sie nun bereits seit fast 10 Jahren arbeitete. Mit 17 hatte sie die Praxis und somit auch Ruby, ihre grade einmal acht Jahre ältere Chefin, kennengelernt und anschließend die Möglichkeit erhalten bei ihr ihre Ausbildung zur Physiotherapeutin zu starten. Die Zeit hatte sie nicht nur beruflich zusammengeschweißt, sondern auch privat. Sie war Familie, eine herzliche quirlige große Schwester, auf die sie sich im wahrsten Sinne des Wortes blind verlassen konnte.
Zu ihrer Verwunderung erhielt sie keine Antwort auf ihren Gruß. Irritiert von der Stille hielt sie inne. „Guten Morgen, ich dachte schon du kommst gar nicht mehr", brach Rubys gut gelaunte Stimme plötzlich die Stille, was Mali erschrocken zusammenfahren ließ. „Heilige Scheiße, Ruby", fluchte sie, was ihre Freundin auflachen ließ. „Was? Hast mich nicht gesehen was?", witzelte Ruby, während sie auf sie zukam und ihr sanft die Hand auf die Schulter legte. „Haha", grinste Mali kopfschüttelnd den Kopf „Haben wir einen Clown gefrühstückt?". „Im Gegensatz zu dir habe ich noch gar nichts gefrühstückt. Apropos, warum bist du so spät?", fuhr sie lachend fort, während ihre Stimme sich weiter von ihr entfernte. Mali ging gezielt zum Schrank welcher in der hinteren linken Ecke des Raumes stand, öffnete ihn und verstaute ihre Tasche darin: „Ein kleiner Unfall im Cafe", erklärte sie bemüht beiläufig, wobei sie sich eingestehen musste, dass ihre Gedanken auf ihrem Weg zur Praxis immer wieder zu dem kleinen Vorfall und diesem Mann abgedriftet war. „Unfall?", hakte ihre Freundin irritiert nach, worauf Mali zaghaft lächelnd die Schultern hob: „Bin einem Mann in die Arme gelaufen und habe meinen Cappuccino auf seinem Hemd verteilt". Mali hörte, wie sich Rubys Schritte näherten, sie sich, so glaubte sie zumindest, an die kleine Theke der Anmeldung lehnte: „Uhhhhh" entfuhr es ihr amüsiert. „Sah er gut aus?", prustete sie los, worauf Mali erneut den Kopf schüttelte: „Du weißt, du hast am Tag nur drei dumme Sprüche frei. Der vierte kostet dich ein Mittagessen", konterte sie mahnend, wobei sie sich ein Lachen selbst nicht verkneifen konnte. Sie war froh über Rubys lockeren, humorvollen Umgang mit ihr, froh, dass sie sie auf die Schippe nahm, mit ihr witzelte. Wenn sie eins nicht leiden konnte, war es bemitleidet oder gar mit Samthandschuhen angefasst zu werden. Nachdenklich schloss sie den Schrank, in ihrer Hand eine dünne Stoffhose und das Praxis-Poloshirt: „Es hat sich seltsam gut angefühlt", gab sie zu. „Er hat sich seltsam gut angefühlt", korrigierte sie etwas leiser. „Angefühlt?", entfuhr es Ruby erstaunt, was Mali verlegen grinsen ließ. „Ich hatte die Wahl mich an ihm festzuhalten oder wie mein Kaffee unsanft zu Boden zu gehen. Ich habe mich nach reiflicher Überlegung für Option eins entschieden.", sprach sie, den Schalk in der Stimme, während sie erneut mit den Schultern zuckte: „...ich muss mich jetzt umziehen, sonst bekomme ich noch Ärger mit meiner Chefin. Herr Clemens müsste gleich da sein".
Langsam ließ Mali ihre Hände über den Rücken ihres Patienten gleiten, spürte jede kleinste Reaktion seines Körpers, jede Muskelkontraktion unter ihren Fingern. „Haben Sie die Übungen gemacht, die ich Ihnen letzte Woche gezeigt habe, Herr Clemens?", fragte sie schmunzelnd, wobei sie die Antwort schon kannte, sie von seiner Rückenmuskulatur ablesen konnte. „Natürlich", erwiderte er mit einem Hauch Unsicherheit in seiner Stimme. „Herr Clemens", mahnte Mali schmunzelnd. Ihr Patient atmete tief durch: „Ich hatte einfach keine Zeit, die Arbeit ist so stressig und die Kinder halten mich auch ordentlich auf Trapp...", rechtfertigte sich der Herr Mitte 40 ertappt, was Mali auflachen ließ: „Es ist Ihr Rücken, aber wenn Sie sich Besserung erhoffen müssen Sie schon mithelfen. Zaubern kann ich noch nicht.". „Bei Ihnen bin ich mir da manchmal nicht so sicher, Mali", lachte der Herr auf der Liege, was auch Mali schmunzeln ließ. Im Gegensatz zu Ruby fiel es ihr leichter Verspannungen zu ertasten, kleine Knötchen ausfindet zu machen. Sie hatte ein besonderes Gespür für Menschen und deren Körper und eben genau das war es, was ihre damalige Chefin bereits in Malis Praktikum überzeugt hatte. Ihr Fokus war ein anderer und genau das kam ihr in diesem Job zu Gute.
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Luc saß in seinem Meeting, zu dem er grade noch pünktlich eingetroffen war. Locker saß er auf dem mit schwarzem Leder bezogenen Stuhl, seine Beine lässig übereinandergeschlagen, während er die Finger durch sein dunkelblondes nach hinten gekämmtes Deckhaar gleiten ließ. Seine Brille hatte er abgezogen, sie vor sich auf dem Konferenztisch abgelegt und versuchte den Ausführungen seines Finanzberaters zu folgen, was ihm zu seiner Überraschung an diesem Morgen gehörig misslang. Immer wieder driftete er in seinen Gedanken ab, sah diese außergewöhnlichen bernsteinfarbenen Iriden vor seinem inneren Auge. Ihr Blick war so klar gewesen, hatte so fokussiert gewirkt, dass er nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde darüber nachgedacht hatte, dass diese Frau ihn nicht hatte sehen können. Tief zog er die Luft ein, bevor er sie kontrolliert wieder ausstieß. Weshalb ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf?
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Blind - Eine andere Sicht der Dinge
RomanceLiebe auf den ersten Blick! Gibt es sie? Kann es sie geben? Diese Frage stellt sich ausgerechnet Mali, eine junge Frau, der die Fähigkeit des Sehens von Geburt an verwehrt blieb.