Mali schob ihren ledernen Geldbeutel über die Theke aus massivem Holz: „Ich glaube die Münzen reichen nicht. Nimm einfach den Zehner", hob sie lächelnd die Schultern. „Nicht nötig", entgegnete Jenna, was Mali irritiert die Augenbraue heben ließ: „Wie?", entfuhr es ihr verdutzt. Jenna schob das Portmonee zurück, bevor sie Cappuccino und die Papiertüte mit ihrem täglichen Muffin direkt daneben platzierte. „Wurde bereits bezahlt". „Was? Von wem?", hakte Mali perplex nach, worauf Jenna sich über die Theke hinweg zu ihr vorbeugte, ihr Gesicht nun in unmittelbarer Nähe: „Kannst du dich an den charmanten Traumtypen erinnern, von dem ich dir erzählt habe", erklärte sie leise, wobei ihre Stimme einen Hauch Enttäuschung erahnen ließ. Malis Augen wurden groß. Was hatte sie denn mit diesem Mann zu tun? Plötzlich hielt sie inne, hörte regelrecht wie der Groschen in ihrem Kopf fiel. Luc Dupont! Er war der Mann von dem Jenna geschwärmt hatte, er war der Mann der ungefragt ihr Frühstück bezahlt hatte. Offensichtlich gab er auch nach ihrer zweiten Absage nicht auf. Aber was wollte er? Sex? Dafür betrieb man doch keinen solchen Aufwand. Oder sah sie ihn mit vollkommen falschen Augen? Ein Schmunzeln huschte über ihre Lippen, als ihr erneut bewusst wurde wie viele Metaphern und Redewendungen es eigentlich gab, die in direktem Bezug zu den Augen eines Menschen und deren Sehfähigkeit standen. „Er hat bezahlt", schloss Jenna ab, wobei Mali ein zartes Lächeln ihrerseits erahnen konnte. „Danke Jenna", erwiderte Mali knapp, bewusst ignorierend, was die junge Frau ihr soeben eröffnet hatte, ergriff selbstverständlich ihr Frühstück und steuerte den Ausgang hinter ihr an. „Bis Montag", fuhr sie leise fort und verließ den Laden mit dem Bewusstsein Jenna vollkommen perplex stehen gelassen zu haben.
Vor der Tür angekommen atmete sie tief durch, während sich ein zartes Lächeln auf ihre Lippen schlich. Dieser Mann war ungewöhnlich und sie war sich sicher, dass sie ihm wiederbegegnen würde. Ob sie nun wollte oder nicht. Geübt klemmte sie ihren Kaffeebecher zwischen Oberkörper und Arm, um gezielt den Muffin aus seiner Papiertüte hervorzuholen. Ein leises, ungewöhnliches Knistern drang an ihr Ohr, als wäre etwas zu Boden gefallen. Ein Stück Papier. Irritiert hielt sie inne, bückte sich, stellte den Kaffeebecher neben sich auf dem Asphalt ab und tastete ihn an der Stelle ab, an dem sie das offensichtlich heruntergefallene Papier vermutete. Und tatsächlich, wenige Augenblicke später hielt sie einen kleinen sorgfältig zusammen gefalteten Zettel in ihrer Hand. -Echt jetzt?!- schnaubte sie. Es gab tatsächlich nur wenige Momente in ihrem Leben, in denen sie es fuchste blind zu sein und dieser gehörte definitiv dazu!
"Ruby", rief Mali ungeduldig als sie die Physiopraxis betrat, lauschte ob sie ihre Chefin irgendwo ausmachen konnte. „Ruby?", wiederholte sie erwartungsvoll ihren Namen und stellte ihre Sachen ab. Wo war sie? Sie musste einfach wissen, was das für ein Zettel war und vor allem was darauf stand. „Was ist denn los? Ist etwas passiert?", entfuhr es ihrer Chefin, die offensichtlich grade ihr Behandlungszimmer verließ und auf Mali zutrat. „Ähnlich", erwiderte Mali, nestelte ungeduldig den Zettel aus ihrer Hosentasche und streckte ihn ihr entgegen: „Was steht da drauf?" „Guten Morgen erstmal", lachte ihre Freundin, als sie ihr das Stück Papier aus der Hand zog: „Was ist das?", fuhr sie neugierig fort, was Mali schnauben ließ: „Das sollst du mir sagen. Ich kann es schlecht lesen...." „Dabei ist es eine wirklich saubere gut leserliche Handschrift", witzelte Ruby und lachte auf. „Haha, sehr witzig. Lies vor", forderte Mali aufgeregt, ihr Körper angespannt bis in den kleinen Zeh.
„Lassen Sie mich Ihnen einfach einen schönen Ort verraten. Kein Date, kein Essen! - ab 19 Uhr im -Five- Luc", las Ruby, die Irritation in ihrer Stimme unverkennbar. Überrascht hob Mali eine Augenbraue. „Was?", entfuhr es ihr verdutzt. War das sein Ernst? Dieser Mann war unglaublich! „Luc? Luc Dupont?", beantwortete Ruby Malis Ausruf mit einer Gegenfrage, was diese verlegen mit den Schultern zucken ließ :„Der Mann, in den ich vor knapp zwei Wochen hineingelaufen bin...." „Der, der dich nach deiner Nummer gefragt hat?", fiel Ruby ihr eilig ins Wort, worauf Mali lediglich nickte. „Dann war es wohl kein Zufall, dass er hier war", fuhr Ruby schmunzelnd fort. Mali schüttelte den Kopf: „Ich gehe nicht davon aus", bestätigte sie die Vermutung ihrer Freundin. „Und jetzt das?", hakte Ruby weiter nach „...sag mir, dass du ihm nicht noch eine Abfuhr erteilt hattest". Mali hob bemüht unbeteiligt die Schultern: „Gestern", erklärte sie, bevor sie tief durchatmete und in mahnendem Ton das Wort ergriff: „Kein Wort dazu....du weißt wie ich darüber denke...das hat sich keineswegs geändert...auch wenn....", brach sie ab. „Wenn was?", bohrte Ruby neugierig nach. Mali schüttelte vehement den Kopf: „Ach nichts...ich sollte mich umziehen", bemerkte sie mit fester Stimme, zog ihrer Freundin beinahe zielsicher den Zettel aus der Hand und ging zu ihrem Schrank.
DU LIEST GERADE
Blind - Eine andere Sicht der Dinge
RomanceLiebe auf den ersten Blick! Gibt es sie? Kann es sie geben? Diese Frage stellt sich ausgerechnet Mali, eine junge Frau, der die Fähigkeit des Sehens von Geburt an verwehrt blieb.