Mein Blick verhakte sich automatisch an Odin als sich dieser auf seinem Pferd langsam durch die Menschen bewegte. Es war gerade mal kurz nach Mittag, was bedeutete, dass der Markt erst vor einer Stunde geöffnet hatte. Dementsprechend wenig Gäste waren bisher auch da.
Die Schausteller waren schon immer mal wieder zwischen den Gästen unterwegs, um ihnen die Möglichkeit zu geben, Fotos zu schießen, aber bisher hatte ich keinen zu Pferd gesehen. Ich hatte mir darüber auch keine weiteren Gedanken gemacht, weil ich einfach davon ausgegangen war, dass es zu gefährlich war, alleine mit einem Pferd durch die Menschen zu reiten. Bei der Parade waren wenigstens noch Helfer dabei, die im Fall der Fälle vom Boden aus eingreifen konnten, wenn etwas wäre.
Aber Odin auf seinem schwarzen Pferd sah völlig ruhig aus und auch das Pferd war im Gegensatz zu gestern bei der Parade richtig ruhig. Ob das alles nur Mache war? War das Pferd eigentlich ruhig und der Reiter hatte es nur irgendwie dazu bekommen gestern so zu reagieren? Oder lag es vielleicht an der Menge von Menschen, die gestern da waren?Bei Tageslicht konnte ich diesmal auch den Reiter etwas genauer sehen. Er trug wieder den Helm und die Rüstung, dabei fehlte heute jedoch der Sperr und sein dicker Umhang. Wahrscheinlich weil der Wind heute Nacht wieder etwas nachgelassen hatte und wir deshalb bei Sonnenschein sogar ganze drei Grad hatten, was im Gegensatz zu den minus fünf gestern Abend bei der Parade schon eine Steigerung war.
Seine Wangen sowie seine Nase waren von der Kälte gerötet, genauso wie seine Fingerknöchel rot hervorragten, weil er keine Handschuhe trug.
Ich hatte keine Ahnung von Pferden oder vom Reiten, aber ich war mir trotzdem sicher, dass es Handschuhe gab, die man auch mit Zügeln anziehen konnte. Und wenn ich das wusste, dann musste er als Reiter das auch wissen. Warum trug er also keine?Ich beobachtete ihn, wie er langsam an meiner Hütte vorbeikam und auf seinem Pferd in Richtung des Einganges des Marktes spazierte. Dabei blieb er alle paar Meter stehen, um mit vereinzelten Gästen Fotos zu schießen oder begeisterte Kinder sein Pferd streicheln zu lassen. Sie bedankten sich dann alle überschwänglich bei ihm.
Er lächelte dann immer freundlich, was auch auf die Ferne sehr sympathisch aussah.
Erst als wieder Kunden vor meiner Hütte standen, musste ich zwangsläufig den Blick von ihm lösen und mich um sie kümmern. Sie kauften gleich mehrere Tassen Glühwein und hatten nur einen hundert Euro Schein, wodurch ich mich so sehr darauf konzentrieren musste, dass ich gar nicht realisierte, dass Odin wieder den Rückweg angetreten hatte und erneut an meiner Hütte vorbeikam.
„Odin! Hallo", quietschte plötzlich ein kleiner Junge, der zu dem Mann gehörte, der gerade so viele Tassen Glühwein gekauft hatte. Das ließ mich überrascht von meinem Getränkekocher aufsehen.
Tatsächlich stand Odin auf seinem Pferd nur wenige Meter von meiner Hütte entfernt und lehnte sich sogar etwas nach unten, um dem Kind näher kommen zu können. Dadurch kam er auch wieder in mein Blickfeld, das leider nach oben hin durch die Hütte, in der ich stand, etwas eingeschränkt war. Sein Gesicht konnte ich in der Position aber leider trotzdem nicht genau sehen.
„Hallo, kleiner Mann", antwortete der Schausteller, was dem Jungen sofort ein Strahlen ins Gesicht zauberte. Gleichzeitig lockte mir die tiefe, leicht kratzige Stimme einen angenehmen Schauer über den Rücken.„Papa! Odin hat bestimmt Durst", rief der kleine Junge daraufhin aus und begann wild an der Jacke seines Vaters zu zupfen, was mich fast schmunzeln ließ. Sein Vater kräuselte erst etwas unbegeistert die Stirn, sah von seinem Sohn, der nur noch Augen für Odin hatte, zu mir und dann zu dem Mann auf dem Pferd, der im selben Moment den Kopf schüttelte.
„Ich bin wohl gestärkt, kleiner Mann. Dennoch vielen Dank", lächelte der Reiter freundlich und setzte sich dann wieder richtig auf seinen Sattel, wodurch er wieder außerhalb meines Blickfeldes war. Dass er so hochgestochen redete, kam wahrscheinlich von seiner Rolle als Odin, was auch sofort Wirkung zeigte, denn der Junge war hin und weg.

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Glühwein - selfmade by Andreas ✓
RomanceDass Andreas dieses Jahr zum ersten Mal die volle Verantwortung für den Glühweinstand seiner Familie auf dem größten Christkindlmarkt der Umgebung übernehmen muss, ist noch machbar. Immerhin freut sich der Endzwanziger schon seit Monaten sehr auf di...