0. Prolog

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Für alle 17 Millionen Opfer des ersten Weltkriegs und deren Partner, Kinder, Eltern und Freunde.

München, 23. Dezember 1987

Lucia Winter zitterte, als sie die Klingel eines kleinen Hauses am Stadtrand in München drückte.

Es war eigentlich nicht ihre Art, aufgeregt zu sein. Sie hatte bereits mit vielen Menschen gesprochen, über sie einen Artikel verfasst oder sogar ganze Bücher geschrieben.

Doch heute war es irgendwie anders.

Es war nicht der Schnee, der sich in sanften Flocken auf den kleinen Vorgarten und den Kirschbaum legte.

Es waren auch nicht der sanfte Wind, oder die kalten Temperaturen, die sie frösteln ließen.

Irgendetwas sagte ihr, dass hier etwas längst Vergangenes in der Luft lag.

Sie zuckte zusammen, als ihr eine junge Dame die Tür öffnete. Sie war so in ihren Gedanken versunken gewesen, dass sie ganz vergessen hatte, dass sie ja eigentlich geklingelt hatte.

„Aria Tomlinson", stellte sich die junge Frau vor bat die Historikerin in den Eingangsbereich. „Die Schuhe können sie einfach zu den anderen dazustellen."

Lucia staunte nicht schlecht: Einige paare Kinderschuhe, unterschiedlich groß, und viele, viele Paare Erwachsenenschuhe standen ordentlich beieinander.

„Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?", fragte Aria freundlich, woraufhin Lucia nickte und ihre Aktentasche wieder vom Boden nahm, ihre Schuhe zu den anderen stellte und sie erwartungsvoll anblickte. In ihrem schwarzen Haar hatten sich ein paar einzelne Schneeflocken verfangen.

„Mein Vater ist in der Küche", beantwortete Aria ihre stumme Frage, und auf dem Weg durch den Eingangsbereich beobachtete sie die vielen Familienbilder, die an den verspielt gestrichenen Wänden hingen.

Aus dem Wohnzimmer waren lachende Kinder zu hören, und Lucia glaubte, dass es sich um all die Kinder auf den unzähligen Familienfotos handelte.

Ein Bild allerdings stach ihr besonders ins Auge: Das Bild eines jungen Soldaten, in etwa Anfang zwanzig, in Uniform, und doch lächelnd. Das Bild war in Brauntönen gehalten und hing in einem schwarzen Rahmen an der Wand.

Direkt daneben befand sich die Tür zum Wohnzimmer. Sechs Kinder spielten dort auf dem Boden mit einer großen Modelleisenbahn und Puppen. Es waren vier Jungen und drei Mädchen, die sich gegenseitig anstichelten.

„Das sind die Kinder meiner Schwester und mir", erklärte Aria und zeigte auf die spielenden Kinder. „Sie ist gerade einkaufen, müsste allerdings jeden Moment wieder zurückkommen."

Als die Kinder Lucia bemerkten, waren sie einen Moment still und musterten sie von oben bis unten. Es war ihr unangenehm, doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

„Wer ist das, Mommy?", fragte eines der Mädchen, das sich fragend zu ihrer Mutter umdrehte.

„Das ist die Schriftstellerin, von der ich dir erzählt habe", erklärte Aria und lächelte ihre Tochter liebevoll an. „Die, die gleich mit eurem Großvater sprechen möchte."
Aria führte Lucia an einem gemütlichen Kamin vorbei, in dem allerdings kein Feuer brannte. Schließlich betrat sie die Küche und sah dem Mann in die strahlend blauen Augen, wegen dem sie eigentlich hier war:

Louis Tomlinson.

Mittlerweile war er ein alter Mann, doch es war seine Geschichte, die sie hier her in das kleine Häuschen nach München führte.

„Da sind Sie ja", lächelte er, schien für seine immerhin 97 Jahre noch sehr fit zu sein.

Gerade hatte er sich frischen Tee aufgebrüht. „Möchten Sie auch eine Tasse?"

Lucia nickte zögerlich und sah sich unauffällig um. Die Küche war klein gehalten, trotz allem sehr geräumig. Die Wände waren aus hölzernen Vertäfelungen, und die Küchenmöbel verspielt, ebenfalls aus Holz.

Der Boden bestand aus schlichtem Parkett und die Vorhänge hatten ein rot-kariertes Muster.

Genau so, wie man sich eigentlich eine Landküche vorstelle, schoss es Lucia durch den Kopf, doch sie sagte nichts, nahm still die Tasse Tee an, die Louis ihr anbot und folgte ihm zurück ins Wohnzimmer.

Die Kinder hatten sich mittlerweile angezogen und waren in den Garten gegangen, um einen Schneemann zu bauen.

In diesem Moment kam eine junge Frau zur Tür herein, mit zwei Einkäufen auf dem Arm und einem großen deutschen Schäferhund an der Leine. „Mein Gott, was ist das bloß für ein Trubel in der Stadt", seufzte sie und stellte die Tüten auf den Boden, ehe sie sich die Schuhe auszog. „Es ist doch jedes Jahr das gleiche vor den Feiertagen."

„Hast du alles bekommen?", wollte Aria von ihrer Schwester wissen und diese nickte.

„Das ist Mona, meine Schwester", stellte sie sie Lucia vor. „Und das ist Lucia, die Dame, die Papa heute sprechen sollte."

Mona nickte und reichte ihr höflich die Hand, ehe sie sich den Mantel auszog und den Hund von der Leine ließ.

Schließlich nahm auch sie sich eine Tasse Tee und setzte sich zu der Runde. Louis legte einige Scheitel Holz in den Kamin und zündete ihn an.

Es entstand eine regelrecht gemütliche, fast vertraute Atmosphäre in dem kleinen Wohnzimmer.

Stille.

Eine ganze Minute lang.

Als Louis sich wieder hinsetzte, war er der erste, der seine Sprache wiederfand. „Man hat also mein Tagebuch gefunden?"

„Ja", antwortete Lucia und holte ein uraltes, fast völlig vergilbtes Tagebuch aus ihrer Tasche. „Auf einem früheren Schlachtfeld in Ypern, in Belgien."

Sie gab es dem alten Mann in die zitternden Hände und beobachtete, die er es genau ansah.

Als Louis es zum ersten Mal seit fast 60 Jahren in den Händen hielt, spürte er, wie ihm Tränen in die müden, blauen Augen stiegen.

Er lächelte bitter. „Ich habe in der Nähe von Ypern jahrelang in allen vier Flandernschlachten gekämpft, später in Verdun", begann er zu erzählen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich weiß noch ganz genau, wo ich es vergraben habe. Ich habe es seit über achtzig Jahren nicht mehr in den Händen gehabt."

„Warum haben Sie es vergraben?", wollte Lucia wissen, die sich darüber wunderte, wie fit Louis in seinem Alter eigentlich noch war.

Ein bitteres Lachen drängte sich aus der Brust des alten Mannes. „Ich hatte Angst, dass es in falsche Hände gerät. Damals war Homosexualität strengstens verboten, noch heute ist es längst nicht gesellschaftlich akzeptiert. Man hätte uns erschossen, immerhin waren wir zwei Soldaten gegnerischer Armeen. Niemand wusste davon. Niemand, außer Niall."

Lucia lächelte. „Sie haben damit schon eine kleine Sensation losgetreten", sagte sie und nahm einen Schluck aus ihrer Teetasse, an der sie sich noch immer die durchgefrorenen Fingern wärmte.

Louis lächelte zurück. „Damals hätte es das auch. Nur auf eine andere, boshaftere Art."

Lucia räusperte sich und warf einen Blick auf ihre Notizen, um ihm ihre erste Frage zu stellen:

„Woran erinnern sie sich denn am meisten an diesem Weihnachtsmorgen vor 73 Jahren?"

Louis dachte einen Moment lang nach. Er antwortete nicht sofort, atmete dann tief ein und sah ihr in die Augen. „An die Stille", gab er schließlich zur Antwort. „An diese unheimlich ungewohnte Stille."

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Na, was sagt ihr zum Prolog? :)

Lasst es mich gerne in den Kommentaren wissen. Ich bin gespannt :)

All the love,

Helena xx

The Great WarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt