Und das taten sie auch.
Am Morgen wurde wieder geschossen.
Harry konnte sich nicht konzentrieren.
Nicht auf die Befehle, die von Niall kamen, nicht auf Warnungen, die von anderen Soldaten kamen, und schon gar nicht darauf, eigene Schüsse in den fremden Schützengraben abzugeben.
Er konnte an nichts anderes mehr denken als an Louis, an den Kuss und an das Gespräch, das sie am gestrigen Abend noch geführt hatten.
Und wie sie sich am Abend noch versprochen hatten, auf sich aufzupassen.
Was, wenn er heute Abend nicht wie vereinbart zur Farmhütte kam?
Was, wenn ihm etwas zustieß?
Was, wenn seine eigene Kugel ihn tötete?
Harry schüttelte den Kopf und versuchte, sich zwischen all dem Rauch einen Weg durch den eigenen Schützengraben zu suchen.
Er hörte Schüsse fallen und Granaten explodieren, während ihm ganz entging, dass neben ihm eine im britischen Schützengraben landete.
Niall allerdings war das nicht entgangen. Ihm war auch nicht entgangen, dass Harry unvorsichtig durch die Gegend lief und mit dem Kopf ganz woanders war.
Als er registrierte, dass der junge Soldat überhaupt nicht bemerkt hatte, dass neben ihm eine Granate auf dem Boden lag, zögerte er keine Sekunde mehr.
„Harry!", rief er und sprintete in dessen Richtung. Er zog ihn einige Meter mit sich und warf sich mit seinem gesamten Gewicht auf ihn - gerade noch rechtzeitig, um das Leben der beiden Männer zu retten.
Sie spürten die Hitze, die von der Explosion ausging und sahen den Rauch, der vor ihren Augen in die Luft stieg.
Harry schüttelte irritiert den Kopf und suchte nach seinem Gewehr.
„Du musst besser aufpassen, verdammt!", brüllte Niall über den ohnehin ohrenbetäubenden Lärm hinweg.
Das war wirklich knapp gewesen.
Verdammt knapp.
Harry war schockiert über seine eigene Leichtsinnigkeit und fand sein Gewehr schließlich im Matsch.
Nachdem er den ersten Schock verdaut hatte, legte Niall ihm die Hand auf die Schulter und sah ihm eindringlich in die Augen. „Wo bist du denn mit deinen Gedanken?"
Es war eine eher rethorische Frage, für deren Antwort absolut keine Zeit blieb. Sie mussten den gegnerischen Schützengraben im Auge behalten.
„Tut mir leid", murmelte Harry, obwohl er ganz genau wusste, dass Niall ihn über den ganzen Lärm hinweg nicht hören konnte.
Die Rauchschwaden der Geschütze hatten den ganzen Himmel grau gefärbt und die Sonne hatte keine Chance.
Es war finster um sie herum und Niall drängte Harry einige Meter weiter nach hinten. „Du bist nicht bei der Sache."
Die Augen seines Freundes waren besorgt. Und Harry konnte es ihm nicht verdenken.
Denn es war wirklich mehr als nur knapp gewesen.Auf der gegnerischen Seite gab Louis seinen Leuten Befehle, immer mit der flauen Gewissheit im Magen, dass er dort drüben diejenigen tötete, mit denen er gestern noch Weihnachten gefeiert hatte.
Er betete, dass Harry in Sicherheit war und dass keine Granate, kein Geschütz, keine Kugel ihn traf und er heil heute Abend an der Farmhütte ankommen würde.
Der Gedanke ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Er wartete darauf, dass dieser verdammte Tag sich dem Ende zuneigte, doch Sekunden wurden zu Minuten und Minuten wurden zu Stunden.
Auch er war nicht bei der Sache, fühlte sich absolut nicht in der Lage, die Verantwortung für seine Männer zu übernehmen.
Er fragte sich, wie Niall das wohl anstellte.
Oder ob er überhaupt noch lebte.
Wie erging es Harry wohl dort drüben?
Zwischen all den Granaten und dem Beschuss, den er veranlasst hatte?
Es kämpften Briten mit Deutschen zwischen den Schützengräben im Niemandsland, doch keiner machte wesentliche Fortschritte.
Die Frontlinien blieben auch an diesem Tag unverändert.
Keine der beiden Armeen erreichte den ersehnten Durchbruch, um das Blutvergießen endlich beenden zu können.*
Sie trafen sich zur abgemachten Zeit am abgemachten Ort.
Erleichtert fielen sich die beiden Männer in die Arme, als sie den jeweils anderen erblickten und feststellten, dass sie beide unverletzt waren.
Harry spürte die Wärme, die von Louis ausging und hätte sie am liebsten für immer mit sich herumgetragen.
Sie gingen in die kleine Farmhütte am Rand des Hinterlandes, und Louis machte vorsichtig den Kamin an.
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The Great War
Romance1914. Der erste Weltkrieg tobt seit fünf Monaten, und an der Westfront kämpfen Deutsche und Briten erbittert gegeneinander an. Bei Ypern in Belgien ereignet sich in diesem Jahr ein wahres Weihnachtswunder. Die eigentlich verfeindeten Soldaten legen...