Epilog

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Jedes Wort ist zu viel, und doch zu wenig, weil nichts die Leere beschreiben kann, die du hinterlassen hast, als du gingst.

München, 23. Dezember 1987

Zum ersten Mal seit sechzig Jahren las Louis den letzten Satz seines Tagebuchs.

Der Schmerz durchfuhr ihn wie ein scharfes Messer.
Es war der ehrlichste Satz, den er jemals zu Papier gebracht hatte.
Alle Anwesenden schwiegen. Draußen dämmerte es langsam.

Louis spürte, wie das Tagebuch in seinen Händen förmlich zu glühen begann. Dieser stumme Zeuge eines Krieges, der seine Soldaten für immer gebrochen hatte.

„Von diesem Tag an kämpfte ich auf der britischen Seite", erzählte Louis und sah Lucia fest in die Augen, während sie sich mit Tränen füllten. „Weil ich nicht länger für eine Armee in den Krieg ziehen wollte, die mir das liebste genommen hat."

Ergriffen notierte Lucia sich einige Stichpunkte. „Ist das niemandem aufgefallen?"

Louis zuckte die Schultern. „Ich ließ mich unter falschem Namen in die Armee eingliedern und rasierte Haare und Bart bis auf ein Minimum", antwortete er. „Natürlich wäre das alles ohne Niall's Hilfe niemals möglich gewesen."

Lucia lächelte. „Klingt, als wären Sie gute Freunde geworden."

Louis nickte. „Das sind wir auch", erzählte er. „Noch heute."

„Er lebt noch?"

„Selbstverständlich tut er das", lächelte Louis, „Und er ist der beste Freund, den ich je hatte."

Lucia's Blick fiel auf das Tagebuch in Louis' Händen. „Also starb Harry an den Folgen eines Gasangriffs?"
Louis nickte, und er spürte, wie seine Hände zu zittern begannen. Eine Eigenart, die er aus dem Krieg mitgebracht hatte.

Wann immer er sich anspannte, begannen seine Hände, unwillkürlich zu zittern. „Er ist nach einem mehrstündigen Todeskampf jämmerlich zu Grunde gegangen und wurde in einem Massengrab verbuddelt."

Lucia hörte den zitternden Tonfall in Louis' Stimme. „Ich habe bis heute keinen Ort, an den ich gehen kann, wenn ich mich an ihn erinnern möchte."

Lucia sah ihn einen Moment lang an. „Man hat die menschlichen Überreste von mehr als hundert Soldaten bei Ypern in Belgien in einem Massengrab gefunden", sagte sie schließlich. „Sie werden gerade identifiziert und anschließend mit allen militärischen Ehren beigesetzt."

Louis' Augen wurden größer. „Tatsächlich?"

Die junge Journalistin nickte. „Es sieht ganz danach aus, als würde es sich dabei um Ihren Frontabschnitt handeln."
Louis spürte, wie die Tränen sich einen Weg ahü über seine Wangen suchten.

Nach über sechzig Jahren, in denen er sich beinahe täglich an die Schrecken des ersten Weltkrieges erinnert hatte, würde er womöglich endlich einen Ort zum Gedenken bekommen – in den letzten Jahren seines Lebens?

„Was haben Sie nach dem Krieg gemacht?", wollte Lucia schließlich von dem alten Veteran wissen.

Louis dachte einen Moment lang nach, dann sah er ihr in die Augen. „Nach dem Krieg bin ich vorerst nicht nach Hause zurückgekehrt", erzählte er. „Zu groß war die Angst, aufgrund des Wechsels zur britischen Armee inhaftiert oder hingerichtet zu werden."

„Wo sind Sie also hingegangen?"

„Das Schicksal von Harry's Tochter hat mich nicht losgelassen", sagte er, und sein Blick fiel auf Aria. „Ich bin nach Großbritannien gereist, nur um festzustellen, dass ihre Mutter Alice genau wie Harry's Mutter an der Spanischen Grippe gestorben waren. Also habe ich mich entschlossen, mich um sie zu kümmern. Da war sie vier Jahre alt."

The Great WarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt