15. Ich schaffe das nicht allein

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Er musste wohl irgendwann vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Vielleicht lag es auch an den starken Schmerzmitteln, die man ihm verabreicht hatte.
Er wachte auf, mitten in der Nacht, als seine Schmerzen zurückkehrten.
Harry versuchte, sich zu orientieren, fand sich in einem Krankenlager wieder, zwischen schwerst verwundeten Soldaten. Die meisten von ihnen hatte er noch nie gesehen.
Dennoch - der Anblick ängstigte ihn zutiefst.
Was war passiert?
Und vor allem - wie war er hier gelandet?
Woher kamen diese unglaublich starken Kopfschmerzen und diese Übelkeit?
Das letzte, woran er sich erinnern konnte, war ein spontaner Angriff der Deutschen und den Gedanken, dass er sich besser konzentrieren musste.
„Du bist wach", hörte er eine nur allzu bekannte Stimme neben sich.
Er traute seinen Ohren nicht.
„Niall?", fragte er irritiert und sah seinem Freund fragend in die Augen.
Das Drehen seines Kopfes ließ eine erneute Schmerzwelle über ihn hinwegschwappen. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen.
Noch in der gleichen Sekunde hielt Niall ihm einen rostigen Eimer hin, damit er sich nicht noch einmal auf sich selbst erbrach.
Harry spürte, dass sein Magen langsam leer war, und außer zähflüssigem Schleim fast nichts mehr im Eimer zu landen schien.
Er lehnte sich erschöpft zurück und sah mit halb geschlossenen Augen in Niall's Richtung. Auf seiner Stirn standen kleine Schweißperlen.
„Was ist passiert?", wollte er schließlich wissen, so erschöpft, dass er zu kaum mehr als einem Flüstern fähig war.
Niall seufzte und sah ihn ernst an. „Eine Granate hat dich erwischt", antwortete er und schluckte. „Du hattest Glück, dass du nicht näher dran standest."
Harry schloss die Augen und spürte, dass einige der Bilder zurückkamen.
Er riss sie sofort wieder auf.
„Ich...", stammelte Niall, und seine Stimme zitterte. „Ich bin so erleichtert, dass dir nicht mehr passiert ist. Verdammt, ich ... Ich dachte, ich seh dich nie wieder."
Harry schluckte. „Ich wusste nicht, dass dich das so mitnehmen würde..."
Fassungslos zog Niall seine Augenbrauen zusammen. „Du dachtest, ich würde dich einfach da liegen lassen?"
Harry zog leicht die Schultern an. „Du warst so wütend, du hast gar nicht mehr mit dir reden lassen, ich dachte..."
„Und dann dachtest du, ich würde dich sterben lassen?"
Niall's Stimme war lauter als geplant, und er bemerkte, wie sinnlos sich jegliche Streitereien zwischen ihnen plötzlich anfühlten.
Jetzt, da Harry so verletzlich und gebrochen vor ihm lag, konnte er einfach nicht länger wütend sein.
„Ich weiß es nicht", antwortete Harry. „Ich weiß generell nicht mehr, was ich denken soll."
Niall presste die Lippen zusammen. „Du solltest dich erst einmal auskurieren. Du brauchst Ruhe und viel Schlaf."
Harry sah seinem Freund ehrlich in die Augen. „Was ist mit Louis? Denkst du, er macht sich Sorgen?"
Niall atmete hörbar aus und versuchte, seine eigene Wut herunterzuschlucken. „Ich kann es dir nicht sagen, ehrlich. Aber ich ... Ich denke schon."
Harry spürte, wie Tränen hinter seinen Lidern brannten. „Ich weiß, was du denkst. Aber, Niall, er war es nicht."
Niall pustete die Luft scharf aus seinen Lungen. „Harry", machte er und sah seinen Freund ernst an. „Wer soll es sonst gewesen sein?"
Harry erwiderte Niall's Blick. Er erzählte ihm von Louis' Cousin Liam, und von der Tatsache, dass er eigentlich nur Louis hatte warnen wollen. Nicht den ganzen Rest.
Niall seufzte laut auf. Harry war einfach viel zu gutgläubig für diese Welt.
„Du musst vorsichtiger sein, Harry", appellierte er an seinen Kollegen. „Es geht hier um Menschenleben."
Harry blickte zu Boden und spürte, wie die Bilder zurückkamen. Die Bilder von all den Männern, die an diesem Abend gestorben waren. Seinetwegen.
Niall griff nach der Hand seines Freundes. „Du solltest den Kontakt zu ihm abbrechen. Deiner selbst wegen."
Harry schüttelte den Kopf, bereute es allerdings in der nächsten Sekunde. Stechende Kopfschmerzen durchzuckten sein Gehirn, und sofort war die Übelkeit wieder da. „Das geht nicht, und das weißt du."
Niall seufzte. „Mensch Harry, wie stellst du dir das denn vor?"
„Ich weiß es doch auch nicht, verdammt", gab er fluchend zur Antwort. „Alles, was ich weiß ist, dass ich irgendwie gar nichts weiß."
Niall fuhr sich mit beiden Händen über das erschöpfte Gesicht. „Hast du eigentlich eine Ahnung, wie gefährlich das ist?"
Harry blinzelte. „Natürlich ist mir das klar. Aber ich muss ihm sagen, dass es mir gut geht."
„Aber dir geht es nicht gut", stellte Niall trocken klar. „Du kannst noch nicht einmal aufstehen."
„Bitte", flehte Harry unter Schmerzen. „Bitte geh für mich zu der kleinen Farmhütte und sag ihm, wo ich bin und warum."
„Auf gar keinen Fall", gab Niall entschlossen zur Antwort. „Du kannst gerade nicht klar denken, Harry. Konzentriere dich auf dich selbst, sieh zu, dass du lebend hier rauskommst, und suche dir zu Hause eine liebenswerte Frau, mit der du viele kleine Kinder bekommen kannst. Aber setz dein Leben nicht für einen Deutschen auf's Spiel, du wirst verlieren."
Harry spürte, wie ihm dicke Tränen in die Augen stiegen. Er zitterte am ganzen Körper. „Niall", antwortete er mit bebender Stimme. „Du verstehst mich wie sonst niemand. Du weißt, dass ich nie ein normales Leben mit Frau und Kindern führen werde, so wie du es tust. Und ich brauche deine Hilfe. Ich schaffe das nicht allein."
Niall zögerte. Aber er sah Harry, wie er da vor ihm lag, um Haaresbreite dem Tod entkommen, und sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
Harry war wie ein Bruder für ihn, das beste was ihm in diesem Dreckloch hätte passieren können.
Und er sah, wie er litt, wie er zitternd in diesem Bett lag und mit sich rang.
Er dachte an Rose, die zu Hause saß, schwanger, allein mit den Kindern und immer in der Ungewissheit leben musste, sich nie sicher sein konnte, ob ihr Mann lebend wieder nach Hause kommen würde.
Niall schluckte. Er griff nach Harry's Hand. „Du weißt, du kannst dich immer auf mich verlassen", sagte er, immer darauf bedacht, dass niemand ihrem Gespräch lauschen konnte. „Scheiße, also sag mir schon wo ich hin muss."
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Hallo meine Lieben und ein schönes Wochenende!
Ich hoffe, ihr seid gut durch die Woche gekommen.
Bin gespannt was ihr zu dem Kapitel sagt :)

All the love,
Helena

The Great WarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt