2. Wie heißt du eigentlich?

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"Silence
Oh, I remember the silence
On a cold winter day
After many months on the battlefield
And we were used to the violence
Then all the cannons went silent
And the snow fell
Voices sang to me from no man's land"

- Christmas Truce, Sabaton, 2021

„Kannst du mir bitte erklären, was zur Hölle du dir dabei gedacht hast?", wollte Niall zu gleichen Teilen wütend und besorgt von seinem Freund wissen. „Sie hätten dich erschießen können!"
Harry dachte über eine Antwort nach, doch so sehr er sich anstrengte, ihm fiel einfach keine vernünftige Erklärung für sein Verhalten ein. Es war wohl ganz einfach eine Kurzschlussreaktion gewesen, ausgelöst durch das plötzlich auftretende Gefühl von Heimat und Geborgenheit, als beide Seiten ihre Weihnachtslieder gesungen hatten.
Niall schüttelte seufzend den Kopf. „Nun los, lass uns nach oben gehen", sagte er, und nickte in Richtung der Leiter, die aus dem Schützengraben heraus ins Niemandsland führte. „Wir sollten unsere Toten begraben."
Harry folgte seinem Freund, wohlwissend, dass nichts, was er dort oben finden würde, in irgendeiner Art und Weise etwas war, was er ertragen konnte.
Die Bilder seiner gefallenen Kameraden verfolgten ihn täglich, und am liebsten hätte er sich niemals freiwillig beim Militär gemeldet.
Damals hatte noch niemand gewusst, dass die Lage derart eskalieren würde. Eigentlich hatte er nur seiner Mutter helfen wollen, die finanziell seit dem Tod seines Vaters täglich um das Überleben ihrer Familie kämpfte.

Niall hatte sich unterdessen auf den Weg in die wenigen Meter zwischen den verfeindeten Schützengräben gemacht.
Ihm graute vor dem Anblick, der ihn dort erwartete. Schwer verletzte Männer, einige so schwer, dass Sie am Rande der Bewusstlosigkeit dort im Schnee lagen und mit dem Tod rangen, während für andere jede Hilfe zu spät kam.
Er fand Luke, einen Kameraden, den er bereits seit einigen Tagen vermisst hatte. Schon als er auf ihn zuging, erkannte er seine Marke.
Er hatte sich keine Hoffnungen mehr gemacht, ihn lebend zu finden, doch aus dieser Vermutung wurde nun traurige Gewissheit.
Der junge Soldat lag blutüberströmt im Niemandsland, das Gewehr noch immer in der Hand.
Ein Schuss hatte ihn in die Brust getroffen, er war verblutet.
Vermutlich hatte er einige Stunden mit dem Tod gerungen.
Nun waren seine Lippen blau, das Gesicht schneeweiß und die Augen standen ihm weit offen.
Niall fuhr sich über das unterkühlte Gesicht und beugte sich zu ihm nach unten.
Er schloss mit zwei Fingern seine Augen und brachte ihn schließlich zu den anderen Gefallenen, die dort in einem Massengrab beerdigt werden sollten.
Und das war das schlimmste an der ganzen Sache.
Sein Grab bekam noch nicht einmal einen Namen.

Während einige Männer die Gefallenen bargen und die Verletzten in die Lazarette hinter der Front brachten, kamen mehr und mehr Soldaten aus ihren Schützengräben. Die Männer machten miteinander Bekanntschaft und reichten sich die Hände.
Langsam und zögerlich, tasteten sie sich aneinander heran, während die Waffen unangetastet im Schnee lagen, und so begannen Unterhaltungen, zwischen den eigentlich verfeindeten Männern.
Harry versuchte, die Bilder der vergangenen fünf Monate aus seinem Kopf zu verdrängen und atmete schwer aus, während er sich beide Hände vor das Gesicht hielt.
Was war das nur für eine Situation, in die er da geraten war?
Niall legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter. „Wir sollten unsere Gefallenen beerdigen", erklärte er mit belegter Stimme. „Bist du soweit?"
Harry nickte, obwohl das gelogen war. Seit Wochen hatte er keinen Blick mehr auf die Liste mit all den Gefallenen geworfen, weil er viel zu viel Angst davor hatte, dass irgendwann auch sein Name darauf stehen könnte.
Niall lächelte den jungen Soldaten warm an, obwohl auch ihm der Schmerz tief in den Knochen saß.
Die Kälte ließ die Männer frieren, und doch trafen sie sich an den Massengräbern und nahmen als Zeichen der Trauer ihre Kopfbedeckungen ab.
Harry schluckte. Die Gesichter seiner toten Kameraden, alle bald verscharrt in einem Erdloch, ohne Namen, ohne eine Möglichkeit der Trauer, ließen ihn zittern wie Espenlaub.
Die ständige Gewissheit, dass es jedem von ihnen genauso hätte ergehen können, lag schwer über den Männern der britischen Armee.
Niemand wusste, wer lebend wieder nach Hause zurückkehrte.

The Great WarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt