Am Tag darauf sah Niall in der Gefangenenunterkunft nach Louis, der in den vergangenen Tagen keine ruhige Minute gehabt hatte. Zu groß waren die Sorgen gewesen, die er sich um Harry, irgendwie auch um Niall, gemacht hatte.
Er wusste, was die Deutschen geplant hatten, er wusste, dass sie die Briten mit allen Mitteln daran hindern wollten, die Höhe 60 einzunehmen – und dass sie dabei auch erfolgreich sein konnten, wenn alles nach Plan verlief.
Niall brachte Louis an den Rand des britischen Hinterlandes, wo sie ungestört miteinander sprechen konnten, ohne dass jemand ihnen seltsame Fragen stellte.
Der junge Offizier zündete sich eine Zigarette an und beobachtete den Gefangenen einen Moment lang. Er schien nervös zu sein und darauf zu warten, dass er ihm endlich erzählte, was in den vergangenen Stunden passiert war.
Schließlich drängte sich ein tiefes Seufzen aus seiner Brust. „Wir konnten die Stellungen halten", begann er also, „Gerade noch."
Louis schluckte und beobachtete, wie Niall ihm ebenfalls eine Zigarette reichte, die er anscheinend schon vor ihrem Gespräch gedreht hatte.
Dankend nahm Louis sie entgegen und zündete sie an. „Das ist gut für euch", antwortete er, „Denke ich."
Niall schüttelte den Kopf. „Sehr witzig", fauchte er, „Nachdem ihr Chlorgas auf unsere Stellungen abgeblasen habt."„Du weißt genauso gut wie ich, dass niemand von uns etwas dagegen unternehmen kann, wenn die Oberste Heeresleitung eine Entscheidung getroffen hat", entgegnete Louis und blies den Rauch seiner Zigarette aus. „Ich mache hier keine Regeln. Ich befolge sie nur."
Niall dachte einen Moment lang über Louis' Worte nach. So sehr es ihm widerstrebte – er musste ihm Recht geben.Es erging ihm selbst nicht recht viel anders – auch er fand nicht alle Befehle richtig, die er selbst geben musste, weil er sie so von der obersten Instanz bekommen hatte.
Im Endeffekt hatte niemand von den hier anwesenden Männern ernsthaftes Interesse daran, so viele Deutsche wie möglich umzubringen. Es ging nur um das eigene Überleben, die eigenen Instinkte waren stärker als jede Moral.
„Du hast Recht", gab er also zu, was Louis tatsächlich überraschte.Hatte er diese Worte schon einmal aus Niall's Mund gehört?
Niall senkte seinen Blick. Er gab ihm nicht gerne Recht, und eigentlich hätte er ihm am liebsten widersprochen, einfach aus Prinzip – weil er ein Deutscher war und die Deutschen seinen Bruder und zehntausende weitere Männer auf dem Gewissen hatten.„Weißt du", sagte er also, „Ich glaube, dass wir beide gar nicht so unterschiedlich sind."
Louis zog verwundert beide Augenbrauen nach oben. „Tatsächlich?"Niall zuckte die Schultern. „Irgendwie wollen wir doch alle nur, dass das hier endlich vorbei ist."
Einen Moment lang dachte Louis über seine Worte nach und zog an seiner Zigarette. Schließlich nickte er. „So viele sinnlose Tote", kommentierte er. „Weil keiner von den oberen Herrschaften nachgeben will."Zitternd atmete Niall aus. „Ich bezweifle, dass denen da oben ernsthaft klar ist, was hier auf dem Schlachtfeld wirklich passiert."
Louis seufzte. „Natürlich nicht. Die sammeln nüchtern die Marken der verstorbenen Soldaten, schicken einen Brief nach Hause und kümmern sich nicht weiter darum."
„Eigentlich tragisch, wenn man bedenkt, dass hinter jeder Marke, in der der Name eingraviert ist, auch eine Geschichte steckt", überlegte Niall und warf seine Zigarette weg. „Eine Mutter, die ihr Kind unter Schmerzen zur Welt gebracht und anschließend großgezogen hat. Ein Vater, der für sein Land in den Krieg gezogen ist, obwohl er eine Familie hat. Ich weiß nicht, ob sie das wirklich begreifen."
Louis schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Als ich zum Militär gegangen bin, haben die oberen Offiziere ständig davon erzählt, wie ehrenvoll diese Aufgabe doch sei und wie stolz mein Vater auf mich sein könne."
Ein ironisches Lachen drängte sich aus Niall's Brust. „Sehr witzig."
Einen Moment lang wurde es still zwischen den beiden Männern.Niall zündete sich eine neue Zigarette an und reichte Louis seinen Tabak.
Dieser nahm ihn dankend an und drehte sich eine weitere Zigarette. „Wie geht es Harry?", fragte er vorsichtig nach.Natürlich wusste Niall, dass das im Grunde genommen seine größte Sorge war.
„Ich bin mir nicht sicher", antwortete er wahrheitsgemäß und erinnerte sich an die letzten Tage, in denen der Zustand seines besten Freundes ihn zunehmend irritiert hatte. „Ich habe das Gefühl, dass sein Zustand sich ständig verschlechtert."
Besorgt zog Louis die Augenbrauen zusammen. „Wie meinst du das?"Niall zuckte die Schultern. „Naja, zum einen ist da die Sache mit seiner früheren Affäre, die während seiner Zeit im Krieg ein Kind von ihm bekommen hat", erklärte er, „Er hat Angst, dich zu verlieren und kann sich überhaupt nicht vorstellen, Alice zu heiraten, wenn er wieder nach Hause kommt. Gleichzeitig hat er Angst, seine Tochter nie kennenlernen zu können, weil er nicht weiß, ob er jemals wieder lebend hier rauskommen wird. Und zum anderen ist da natürlich diese ständige Angst vor dem Tod, und die Unfähigkeit zu begreifen, was hier eigentlich jeden Tag passiert."
Louis dachte einen Moment lang über Niall's Worte nach. „Du denkst also, ich sollte noch einmal mit ihm über das Ganze reden?"
Niall nickte. „Weißt du, er konzentriert sich nicht mehr richtig. Er sieht die Gefahren nicht mehr rechtzeitig. Er rennt über das Schlachtfeld und vergisst, zu schießen. Er vergisst, sich auf den Boden zu werfen, wenn auf uns geschossen wird. Er ist einfach abwesend. Es ist, als hätte er den Glauben an das Gute verloren."
Louis ließ die Worte des Offiziers sacken und spürte, wie ein unangenehmes Gefühl in seiner Magengegend nach oben kroch, und langsam, Stück für Stück, seinen gesamten Körper füllte: Angst.
„Ich muss mit ihm reden", platzte es schließlich aus ihm heraus, auch wenn er keine Ahnung hatte, was er ihm eigentlich sagen sollte.
„Das wirst du auch", versprach Niall. „Aber gib mir ein paar Tage Zeit, bis die unmittelbare Angriffsphase vorüber ist."
„Wie lange müsst ihr noch an der Front bleiben?", wollte Louis von dem jungen Offizier wissen.
„Noch ein paar Tage", antwortete Niall, „Etwa eine Woche."Louis seufzte. In einer Woche kann viel passieren.
„Ich muss jetzt los", beendete Niall das Gespräch. „Ich muss heute zusammen mit Harry die Nachtwache übernehmen."Louis nickte und ließ sich von ihm zurück in den Gefangenenunterstand bringen.
Er blieb nachdenklich zurück.Die Angst um Harry erfüllte seinen ganzen Körper.
Die Dinge, die Niall ihm erzählt hatte, waren besorgniserregend.Mehr als das. Sie waren tragisch und beängstigend, und Louis wusste nicht, wie er mit ihnen umgehen sollte.
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Hallo meine Lieben und Willkommen im Wochenende!🥰
Na, wie hat euch das Kapitel gefallen? Irgendwelche Vermutungen, wie es weitergeht?♥️
Bin gespannt auf eure Meinungen ♥️All the love,
Helena xx

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The Great War
Romansa1914. Der erste Weltkrieg tobt seit fünf Monaten, und an der Westfront kämpfen Deutsche und Briten erbittert gegeneinander an. Bei Ypern in Belgien ereignet sich in diesem Jahr ein wahres Weihnachtswunder. Die eigentlich verfeindeten Soldaten legen...