Die erste Nacht zurück im Schützengraben.
In den frühen Abendstunden hatte man Harry aus dem Lazarett entlassen und zurück zu seiner Truppe geschickt, die sich gerade im Fronteinsatz befand.
Niall hatte erzählt, dass sie sich seit Tagen in einer seltsamen Art Waffenstillstand befanden, aber niemand dem Frieden so recht traute. Vermutlich waren beide Seiten schlichtweg erschöpft.
Als es langsam dunkel wurde um sie herum, spürte Harry eine keimende Unsicherheit in seinem Inneren, die sich langsam ausbreitete und mit jeder fortschreitenden Stunde alle Zellen in seinem Körper befiel.
Er versuchte zu schlafen, aber es gelang ihm nicht. Zu groß war die Angst vor einem Überraschungsangriff, vor einer Situation, in der er sofort bereit sein musste, um sein Leben zu kämpfen.
Er war in ständiger Alarmbereitschaft, sein Herz raste und seine Gedanken standen keinen Moment lang still.
Immer wieder liefen Sequenzen der vergangenen Kämpfe vor seinem inneren Auge ab wie ein Film. Ein Film, der so grausam war, dass er ihn nicht abschalten konnte.
Mehrmals zündete er sich eine Zigarette an, von der ihm dann übel wurde, und er machte sie wieder aus.
Und als er Stunden später dann doch endlich einschlief, konnte er es in seinen Träumen ganz deutlich sehen: den Nachtangriff, diesen einen, an dem zwei Drittel aller Soldaten gefallen waren, weil man die Deutschen vorgewarnt hatte.
Er sah sie vor sich liegen, seine toten Kameraden, wie er über ihre leblosen Körper stolperte und mit dem Gesicht im Matsch landete. Wie Niall ihn hektisch nach oben zog und ihn in den eigenen Schützengraben schubste, um ihn vor den feindlichen Kugeln zu schützen. Wie Niall sich verzweifelt nach Greg umgesehen hatte.
Er hatte Angst. Unbezwingbare, unbarmherzige Angst, die sich wie ein Gift mit jedem Herzschlag in seiner Blutbahn verteilte.
Niall wurde wach, weil Harry schlecht zu schlafen schien und sich neben ihm unruhig hin- und her wälzte. Dann schien er plötzlich keine Luft mehr zu bekommen und sich in panischer Angst an den Hals zu greifen, doch seine Augen waren noch immer geschlossen, als würde er schlafen.
Niall hatte das in den vergangenen Wochen schon öfter gesehen. Bei unzähligen anderen Kameraden. Aber noch nie hatte er eine solche Situation selbst lösen müssen.
„Harry", versuchte er, seinen Freund anzusprechen und rüttelte zuerst sanft an dessen Schulter. „Harry, du träumst."
Niall griff nach seinem Arm, hielt ihn fest und wiederholte seine Worte etwas lauter. „Verdammt, Harry, wach auf. Du träumst."
Harry spürte, wie seine Brust sich verengte, und gerade an der Stelle, an der sie begannen, die Gefallenen des Angriffs zu identifizieren, fuhr er erschrocken nach oben und schnappte verzweifelt nach Luft.
Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, als er sich langsam umsah und sein Gesicht einen verwirrten Eindruck annahm.
Es war Nacht, aber es war still. Seine Kameraden schliefen, und niemand schoss. Es war ruhig, auch auf der anderen Seite. Niall sah ihn mit vor Schock geweiteten, besorgten Augen an.
Harry schluckte.
Niall war der erste, der seine Sprache wiederfand. „Du hast mich ganz schön erschreckt", sagte er und atmete erleichtert aus. „Mach das nie wieder."
Harry fuhr sich über das müde Gesicht. „Scheiße. Das hat sich so real angefühlt."
Niall reichte ihm eine halb leere Wasserflasche, die er zufällig bei sich trug. „Ich weiß."
Harry musste nicht erklären, wovon er geträumt hatte und was ihm so starke Angst machte.
Jeder hier, insbesondere Niall, wusste ganz genau, was er fühlte. Dazu musste er es nicht aussprechen.
Greg, der an der gegenüberliegenden Seite des Schützengrabens lehnte und bis eben geschlafen hatte, blinzelte seinen Bruder irritiert an. „Was ist passiert?"
Niall atmete aus. „Harry hat sie auch. Diese ... Alpträume."
Greg schien mit einem Mal hellwach zu sein. Er musterte seinen Bruder einen Moment lang, dann begann er, sich eine Zigarette zu drehen. „Das darf niemand mitbekommen."
Harry legte den Kopf schief und sah sein Gegenüber verwirrt an. „Wie meinst du das?"
Greg seufzte und zündete sich die Zigarette an. Ein ernster Blick lag in seinen Augen. „Diese Träume, diese Erinnerungen, die sich anfühlen, als würdest du das Ganze nochmal erleben - du bist damit nicht allein", erzählte er. „Während du im Lazarett warst, haben sich viele von uns mit solchen Beschwerden beim Militärsarzt gemeldet. Und er hat sie alle zurückgeschickt, mit der Aussage, sie sollen sich zusammenreißen, sie seien schließlich Männer, aber vor allem seien sie Soldaten, und da dürfe es so etwas nicht geben. Schließlich haben Soldaten gelernt, Kämpfe auszuhalten."
Greg hielt einen Moment inne und zog an seiner Zigarette. Er sah, wie Harry's Augen sich weiteten. „Diejenigen, die sich weiterhin auf ihre Aussagen stützten, steckte er in Nervenheilanstalten, um ihnen ihre 'männliche Hysterie' auszutreiben."
„Männliche Hysterie", wiederholte Niall und schüttelte verständnislos den Kopf. „Als könnte man jemals wirklich lernen, mit einem so sinnlosen Sterben umzugehen."
Harry zitterte am ganzen Körper. Er hing mit den Gedanken immer noch zwischen Greg's Sätzen fest. „Das haben andere auch?"
Greg nickte. „Natürlich", antwortete er. „Und jeder von uns versteht das. Aber die Ärzte und die Heeresleitung haben keine Ahnung, womit wir hier jeden Tag klarkommen müssen."
Harry schluckte. „Manchmal sitze ich am hellichten Tag im Graben und höre, rieche, sehe etwas, das einen richtigen Film in meinem Kopf ablaufen lässt."
Niall sah seinen Freund mit zusammen gezogenen Augenbrauen an. „Kannst du das nicht irgendwie ... unterbrechen?"
Harry schüttelte wortlos den Kopf. Er sah zwischen Niall und Greg hin und her, und wusste nicht so recht, ob er sich schämen sollte oder nicht.
„Du darfst dir das unter gar keinen Umständen anmerken lassen. Wenn es irgendwie geht, halte dich an Niall und behaltet das unbedingt für euch", riet Greg und sah, wie Harry seinem Blick auswich. „Ich habe von Fällen gehört, in denen sie Soldaten erschossen haben, weil sie dachten, sie wollen sich vor dem Kriegsgeschehen an der Front drücken."
Harry's Augen weiteten sich vor Angst, er spürte, wie ein unangenehmes Kribbeln in seiner Magengegend aufstieg und etwas unheilvolles ankündigte.
Niall legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Wir schaffen das schon irgendwie. Mach dir keine Sorgen."
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Hallo Freunde, Halloooo🎶👋🏻
Wieder eine Woche geschafft 🐰 Ich wünsch euch ein schönes Wochenende!:)
Na, was sagt ihr zu dem Kapitel? Ich bin gespannt :)All the love,
Helena xx
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The Great War
Romance1914. Der erste Weltkrieg tobt seit fünf Monaten, und an der Westfront kämpfen Deutsche und Briten erbittert gegeneinander an. Bei Ypern in Belgien ereignet sich in diesem Jahr ein wahres Weihnachtswunder. Die eigentlich verfeindeten Soldaten legen...