Im Feldlazarett herrschte der gleiche Geruch wie immer: Blut, Schweiß, Eiter, Karbol.
In einem großen Saal lagen so viele schwerst verwundete Männer, dass Niall eine Weile brauchte, um sich nach Harry durchzufragen.
Er empfing seinen Freund mit einem schwachen Lächeln und spürte, wie dieser vorsichtig nach seiner Hand griff. „Niall", lächelte er schwach. Das leicht gelockte Haar hing ihm in ungewaschenen Strähnen in das fahle Gesicht.
Niall hielt unbewusst den Atem an, als er sich neben den jungen Soldaten setzte.
Er sah schrecklich aus. Das Gesicht war seltsam blass unter den Brandwunden, die seinen gesamten Körper bedeckten. Im Bereich von Mund und Nase war die Haut seltsam gräulich, fast weiß. Es waren die Linien, die Niall schon so genau kannte, weil er sie schon hunderte Male gesehen hatte, bei so vielen verschiedenen Männern. Die Vorboten des nahenden Todes.
Tränen brannten in seinen Augen, als ihm klar wurde, dass Harry dieses Lazarett nicht mehr verlassen würde.
Die Verletzungen waren einfach zu schwer.
Der junge Soldat konnte kaum atmen und spuckte Blut.
Niall half ihm, sich halbwegs aufzurichten.
Er wusste, dass er nicht mehr viel tun konnte – abgesehen davon, die letzten Stunden für seinen Freund so angenehm wie möglich zu machen. „Ist schon gut", tröstete er und strich ihm sanft die Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Hast du denn schon ein Schmerzmittel bekommen?"
Harry dachte kurz nach, schüttelte dann allerdings den Kopf. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern.
Den unerträglichen Schmerzen in seinem Brustkorb nach zu urteilen ging er jedenfalls nicht davon aus.
Niall sah sich um und suchte den Saal nach einem Arzt ab.
Niemand zu sehen.
„Ich wollte sie doch unbedingt kennenlernen", flüsterte Harry, seine Stimme zitterte.
Niall's Herz wollte vor Mitgefühl und Trauer fast überlaufen. „Das wirst du auch", versuchte er, zu ermuntern, obwohl er ganz genau wusste, dass es gelogen war. „Ganz sicher."
Was hätte er ihm sagen sollen?
Dass jeder, der sein Bett passierte, sehen konnte, dass er es nicht mehr lebend verlassen würde? Dass er seine Tochter nie kennenlernen, und seine Familie nie wiedersehen würde? Dass Niall diese Nachricht Louis überbringen musste?
Allein bei dem Gedanken daran füllte sein Herz sich mit Angst und Unbehagen, das viel stärker war, als das meiste, was er bisher erlebt hatte.
Harry hustete. Hellrote Bluttropfen landeten auf der Decke – neben den rostbraunen, die schon eingetrocknet waren.
Lippen und Fingerspitzen hatten eine bläuliche Färbung angenommen.
Dann, endlich, erspähte Niall einen Arzt in der hinteren Ecke des Saales. Er kam wohl gerade aus einer Operation.
Er half Harry, sich wieder hinzulegen und sprintete schnellen Schrittes auf den Mediziner zu und hielt ihn an der Schulter fest. „Bitte, Sie müssen mir helfen."
Irritiert landete der Blick des Arztes auf Niall's Uniform. Er erinnerte sich an ihn. Es war der Arzt, der Harry nach einer akuten Panikattacke auf sein Drängen hin ein Beruhigungsmittel statt einem Elektroschock verabreicht hatte.
„Was wollen Sie denn?", fragte er unfreundlich und gab sich keine Mühe, die Abschätzung in seiner Stimme zu verbergen.
„Ich brauche ein Schmerzmittel", stammelte er, so durcheinander, wie er sich eigentlich selbst nicht kannte.
Noch ehe er weitersprechen konnte, rollte der Arzt mit den Augen. „Sie sehen mir doch noch ganz fit aus", winkte er ab und ging weiter. „Für solche Scherze habe ich keine Zeit. Wenn Sie sich berauschen wollen, dann trinken Sie doch einen Schnaps."
Niall zog die Augenbrauen zusammen, als ihm vor Wut die Tränen in die Augen stiegen. „Doch nicht für mich!", schrie er, so laut, dass der Lazarettgehilfe neben ihm zusammenzuckte. „Mein Freund liegt da hinten, mit vom Gas verätzten Lungen, und Sie haben ihm kein Schmerzmittel gegeben!"
Der Arzt räusperte sich. „Also, hören Sie mal", keifte er, „Wenn ich jedem hier Morphium geben würde, hätte ich gar nichts mehr für die Amputationen."
Ein schmerzhafter Stich durchfuhr Niall's Brust.
Harry ist nicht jeder!, hätte er am liebsten geschrien, doch ihn verließ die Kraft. „Er kriegt kaum noch Luft", sagte er also in ruhigerem, aber endlos erschöpftem Ton. „Bitte lassen Sie ihn nicht so leiden."
Niall wusste nicht, wieso der Mediziner sich plötzlich überzeugen ließ. Vermutlich, weil auch ihm die Kraft fehlte und er keine Lust auf eine weitere Diskussion mit dem Unteroffizier hatte.
Er verabreichte Harry das lang ersehnte Schmerzmittel, das seine Sinne angenehm benebelte. Ihm wurde warm und er spürte ein letztes Mal die brüderliche Zuneigung, die er für Niall empfand, der unermüdlich neben ihm saß und ihm den kalten Schweiß von der Stirn tupfte. Er hielt seine Hand, ganz sanft, und doch fest genug, um ihm zu zeigen, dass er da war; ganz egal, was auch passieren mochte.
Natürlich bemerkte er, dass ihm von dem Morphium übel wurde, aber es fühlte sich alles nicht mehr so schlimm an und das unaushaltbare Brennen im Brustkorb ließ nach.
Niall zitterte am ganzen Körper, während sein Verstand sich weigerte, zu glauben, was er sah. Er versuchte, die Bilder zu ordnen; Harry, wie er dort vor ihm lag, sein Gesicht war klar zu erkennen, und doch wirkte es so fremd.
Augen und Wangen waren bereits eingefallen. Es würde nicht mehr lange dauern. Vielleicht noch ein paar Stunden.
Niall fühlte sich elend vor Hilflosigkeit, als der Arzt wieder von Dannen zog. Er musterte Harry's erschöpftes Gesicht, die spitze Nase und die mittlerweile hervorstechende Stirn auf den eingefallenen Schläfen.
Harry's Atmen verursachte ein seltsames Rasseln. Er hatte Wasser in den verätzten Lungen.
„Denkst du, ich kann Louis noch einmal sehen?", wollte Harry mit geschlossenen Augen wissen, die Stimme kaum mehr als ein heiseres Flüstern.
Diese Frage erschütterte Niall bis ins Knochenmark. „Natürlich", versprach er, wieder mit dem Wissen, dass er sich nicht traute, ehrlich mit seinem sterbenden Freund zu sein. „Selbstversrändlich kannst du ihn noch einmal wiedersehen."
Die Tränen liefen dem jungen Offizier unaufhaltsam über die Wangen, und obwohl Harry von dem Schmerzmittel ganz benebelt war, spürte er das salzige Nass auch auf den eigenen Wangen.
Die beiden Männer hielten sich weinend fest wie Kinder, während Harry spürte, dass ihn die Kraft langsam verließ.
„Ich liebe dich, Niall", flüsterte er und drückte die Hand seines Freundes, so fest er konnte.
Niall schüttelte den Kopf. „Nein", schluchzte er, „Hör auf, dich zu verabschieden. Du kannst jetzt nicht sterben, okay?"
Die blauen Lippen zitterten, als Harry ihm antwortete. „Ich will nach Hause."
Niall ließ die kalte Hand des Soldaten keinen Moment lang los, während er versuchte, die Tragik der Situation zu irgendwie zu verarbeiten. Es war der schwerste Abschied seines Lebens.
Monatelang hatte Harry unmenschliche Ängste ausgestanden, während um ihn herum tausende Männer fielen. Mit aller Kraft hatten sie sich gegenseitig eingeredet, dass sie es irgendwann lebend aus dieser Hölle herausschaffen würden – und nun wurde seine schlimmste Angst doch zur Wirklichkeit, so wie es auch bei Tausenden zuvor gewesen war.
Für die Welt da draußen war er nur eine Nummer, ein weiterer der zehntausend Soldaten, die allein in dieser Woche gefallen waren.
Aber für Niall war er der beste Freund, den er je gehabt hatte. Sie waren wie Brüder füreinander gewesen, seitdem sie sich gekannt hatten. Sie hatten aufeinander aufgepasst.
Doch sie waren an einem Punkt angelangt, an dem Niall ihm nicht mehr helfen konnte - ganz egal, wie sehr er sich wünschte, seinem Freund die Schmerzen abnehmen zu können.
Niall dachte an das Telegram und den Brief, den er an Harry's Mutter schreiben musste, anstatt sie irgendwann nach dem Krieg unter erfreulicheren Umständen kennenzulernen.
Stattdessen musste er ihr die Nachricht über den Tod ihres Sohnes überbringen.
Und plötzlich schlich sich Louis wieder in seine Gedanken.
Dieses Gespräch würde ihm am schwersten fallen.
Wenn er nur wenigstens das schon hinter sich hätte.
„Niall?", riss Harry ihn da aus seinen Gedanken und sah ihn aus den leeren Augen an, vor denen Niall sich so fürchtete. „Kannst du mir einen Gefallen tun?"
Niall nickte, ohne zu zögern, die Augen von den Tränen schon ganz gerötet. „Natürlich", antwortete er und strich mit dem Daumen behutsam über Harry's kalte Hände. „Alles, was du möchtest."
Die beiden Männer blickten sich in die Augen, und sie wussten beide, dass sie sich zum letzten Mal sahen.
Es hatte keinen Sinn mehr, Harry etwas vorzumachen. Er wusste, dass er starb.
„In meiner Brusttasche", krächzte er, und deutete mit dem Kinn auf seine Uniform. „Da ist ein Bild von unserer Kompanie. Gib ihm das. Damit er mich nicht vergisst."
Niall griff mit einer Hand in Harry's Brusttasche, mit der anderen hielt er weiterhin dessen Hände fest. Zwischen seinen Papieren fand er es tatsächlich: ein Foto, auf dem einige Männer abgebildet waren, von denen mindestens die Hälfte nicht mehr lebte; darunter auch Harry und Niall, dicht nebeneinander, lächelnd. Zuversichtlich.
Der Offizier nickte. Dicke Tränen tropften auf die Hände der beiden Männer, die sich festhielten, als könne das etwas ändern.
„Weißt du noch, als wir uns kennengelernt haben?", flüsterte Harry und lächelte schwach. „Als wir in der Ausbildung mitten in der Nacht durch den Schnee laufen mussten, weil wir die Treppe nicht ordentlich geputzt hatten?"
Niall lachte, und doch weinte er. „Ja", antwortete er. Auch Harry lachte schwach. „Und ich weiß noch, dass du dich über meinen Akzent lustig gemacht hast."
Harry grinste. Ja, es war ein blöder Tag gewesen, aber gleichzeitig markierte er den Beginn einer Freundschaft, die den Tod überdauern würde.
Ganz sicher.Niall wartete.
Draußen wurde es dunkel.
Harry schlief, das Rasseln in seiner Atmung wurde stündlich lauter.
„Ich will nach Hause", wiederholte Harry, die Stimme kaum noch mehr als ein Flüstern.
„Ich weiß", antwortete Niall, und er drückte seine Hand etwas fester. „Du kannst auch bald nach Hause. Versprochen."Niall tupfte ihm mit seinem Taschentuch die Tränen aus dem matschverschmierten Gesicht. „Aber Harry", fragte er mit zitternder Stimme. „Willst du jetzt schlafen?"
Entkräftet nickte sein bester Freund und spürte noch, wie Niall ihm die Haare aus dem Gesicht strich.
Dann fiel er wieder in diesen tiefen, traumlosen Schlaf, in dem es keine Schmerzen gab.
Die Atmung wurde langsam flacher und die gräuliche Verfärbung der Haut war kaum noch zu übersehen.
Stirn und Nase traten deutlich aus dem Gesicht hervor, Augen und Wangen sanken weiter ein.
Der Arzt ging an seinem Bett vorbei, und Niall konnte sehen, dass auch in seinen Augen nicht die geringste Hoffnung mehr stand, als er an ihm vorbei zum Operationssaal eilte.
Ein Sanitäter schielte ungeduldig zu den beiden Männern hinüber. Vermutlich zählte er bereits die Stunden, wann er das Bett endlich wieder neu vergeben konnte.
Doch selbst er hatte selten einen derart ergreifenden Abschied beobachtet; selbstverständlich gab es viele Männer, die um ihre Freunde weinten. Und doch war die Szene zwischen dem jungen Offizier, der nie Wert darauf gelegt hatte, als solcher angesehen zu werden und seinem sterbenden Freund auf eine tragische Art und Weise besonders.
Er hatte sich zu Harry auf den Boden gelegt, und er hielt ihn fest, so fest er konnte. Der Kopf mit den strähnigen Locken in seinem linken Arm, während er ihm mit der rechten Hand ein nasses Taschentuch auf die Stirn legte.
„Mir ist so kalt", flüsterte Harry. Er zitterte am ganzen Körper.
Niall griff mit der freien Hand nach einer von Dreck starren Decke, die man neben sie gelegt hatte.
Er deckte Harry zu und drückte ihn etwas fester an sich. „Besser?"
Harry nickte, schwach, doch sichtbar. Er öffnete die Augen und sah Niall aus vor Tränen nassen Augen an. „Du bist der beste Freund, den ich je hatte."
Niall spürte, wie auch ihm seit Stunden unaufhörlich salzige Tränen über die Wangen liefen und brennende, klebrige Striemen hinterließen. „Ich liebe dich, Harry", flüsterte er und spürte, wie sein Herz sich schmerzhaft zusammenzog. Er wollte ihn nicht gehen lassen, er konnte es nicht. Es fühlte sich an, als würde man ihn qualvoll langsam in der Mitte auseinander reißen.
„Ich liebe dich auch", hauchte Harry und schmiegte sich ein Stück enger an den weinenden Offizier.
„Ist schon gut", flüsterte Niall mit zitternder Stimme und strich Harry sanft die Tränen von den Wangen. „Egal, was kommt, ich werde immer bei dir sein."
Harry schlotterte am ganzen Körper, und Niall's liebevolle Worte bohrten sich durch sein Herz wie ein Dolch. „Vergiss mich nicht."
Niall schluchzte und schüttelte den Kopf. „Nein, Harry", antwortete er. „Niemals. Versprochen."
Und dann, plötzlich, stoppte das rasselnde Geräusch, das Harry's Atmung verursacht hatte.
Ohne jede Vorwarnung.
Ein scharfes Zucken durchfuhr den Körper des jungen Soldaten und er atmete noch einmal ruckartig ein.
Ein Mal.
Zwei Mal.
Und dann war es vorbei.
Die Muskeln erschlafften und die Augen nahmen einen starren Ausdruck an.
Er war tot.
Unerträglicher Schmerz fuhr durch Niall's gesamten Körper. Er hätte am liebsten geschrien, so weh tat ihm sein Herz.
Sein Gesicht verzerrte sich zu dem eines bitter weinenden Mannes. Er legte den Kopf auf Harry's Brust und schluchzte.
Das war doch nur ein schrecklicher Traum, einer von der Sorte, wie die meisten Männer sie hier hatten.
Das konnte nicht wirklich passiert sein.
Er brauchte ihn doch.
Und wenn er könnte, dachte er bei sich, so hätte er mit Harry die Plätze getauscht und ihm sein eigenes Leben gegeben, um ihm zu ersparen, dass er sich noch nicht einmal von Louis hatte verabschieden können.
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Hallo meine Lieben.
Ich hab keine Worte mehr. Ich musste selber weinen.All the love,
Helena xx
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The Great War
Romance1914. Der erste Weltkrieg tobt seit fünf Monaten, und an der Westfront kämpfen Deutsche und Briten erbittert gegeneinander an. Bei Ypern in Belgien ereignet sich in diesem Jahr ein wahres Weihnachtswunder. Die eigentlich verfeindeten Soldaten legen...