Harry stand vor einem Unterstand der britischen Armee und rauchte eine Zigarette, als Niall neben ihm eine Kiste zuknallte.
Der britische Offizier hatte sich nichts Böses dabei gedacht – Harry allerdings hörte den Knall und spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte.
Er sah sie wieder vor sich.
Die Bilder von der Front.Er hörte die Schüsse und roch diesen süßlichen Gestank nach verwesendem Fleisch und Matsch.
Er schnappte panisch nach Luft und begann, unkontrolliert zu zittern.Harry fühlte sich genauso hilflos wie in den Momenten an der Front, wenn er schießen musste, ohne seinem natürlichen Fluchtinstinkt nachkommen zu können, wenn die Deutschen das Sperrfeuer auf die britischen Gräben eröffneten.
Panisch stellte er fest, dass seine Knie weich wurden und die Beine langsam nachgaben. Er versuchte, dagegen anzukämpfen, doch es war zwecklos.
Die Angst hatte ihn fest im Griff.Sein Herz raste und das Atmen fiel ihm schwer. Der Mund fühlte sich schrecklich trocken an, als hätte er keinen Tropfen Wasser mehr im Körper.
Niall war in wenigen Schritten bei ihm und hielt ihn gerade noch rechtzeitig fest, bevor er ungebremst auf den Boden fallen konnte.Der junge Leutnant half seinem Freund, sich auf den Boden zu setzen.
Nach Luft ringend bemerkte er am Rande, wie Niall sich neben ihn kniete.
Alarmiert griff er den Soldaten an beiden Schultern. „Harry, stopp."Verzweifelt sah er sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand mitbekam, wie Harry den nächsten Angstschub durchstand, während er sich an Greg's Worte erinnerte.
Niemand darf davon erfahren.
Doch es war vergebens. Mindestens ein dutzend Soldaten sowie ein Schmied und der Schlosser standen in der Nähe.
„Hier sind so viele Leute...", murmelte Niall und versuchte, Harry's zitternde Beine auf den Boden zu drücken.Er war bereits in den letzten Tagen ständig nervös und ängstlich gewesen, doch Niall hatte nichts daran ändern können.
Was hätte er auch tun sollen?
Immerhin handelte es sich dabei um ganz natürliche, verständliche Reaktionen auf diese Hölle, in der sie sich befanden. Harry war nicht der einzige, dem es so erging.
Auch an Niall ging die Situation nicht spurlos vorüber.
Harry hatte die Schreie seiner sterbenden Kameraden in den Ohren, als Niall seinen Kopf behutsam in seine Richtung drehte.Er tat intuitiv das Richtige und half Harry, seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen.
„Sieh mich an", sagte er und hielt um jeden Preis Blickkontakt mit seinem Freund. „Du atmest zu schnell. Versuch', dich meinem Rhythmus anzupassen."
Er griff nach Harry's Hand. „Drück' zu."Niall kniff die Augen zusammen, als er spürte, dass Harry ihm beinahe die Finger brach. Er atmete ein, und Harry versuchte, es ihm gleich zu tun, doch er fühlte sich, als stünde jemand auf seiner Brust.
Die Luft wollte einfach nicht in seinen zitternden Oberkörper fließen.Schließlich holte ein anderer Soldat einen Arzt dazu, der sich die Situation einen Moment lang nachdenklich ansah.
„Schon wieder einer", murmelte er und schob Niall zur Seite. „Ich werde ihn mit ein paar Elektroschocks behandeln."„Auf gar keinen Fall", schaltete Niall sich sofort ein. „Sie werden ihm jetzt ein Beruhigungsmittel geben."
„Bei allem Respekt, Sir", antwortete der Mediziner, „Aber ich bin der Arzt und ich entscheide über die geeigneten Behandlungsmethoden."Wütend wurde Niall lauter. „Genug der gespielten Höflichkeit", fauchte er, „Wäre ich an seiner Stelle, hätten Sie mir doch auch ein Beruhigungsmittel gegeben! Ich habe gesehen, wie die anderen Offiziere Bäder und Medikamente bekommen haben, ganz im Gegensatz zu den Mannschaftssoldaten, die Sie irgendwelchen grausamen Schocktherapien unterziehen."
Der Arzt schien nervös zu werden, angesichts der Tatsache, dass er beinahe nur von Mannschaftssoldaten umgeben war, die von den Unterschieden in den Behandlungsmethoden eigentlich nichts wissen sollten.„Ist ja schon gut", gab er sich schließlich geschlagen, so leise, dass nur Niall ihn hören konnte.
Er zog eine kleine, weiße Tablette hervor und bat Niall, Harry's Schultern festzuhalten.
Der Arzt legte ihm die Tablette unter die Zunge, ehe Niall ihm eine steinerne Wasserflasche reichte, deren Inhalt zur Hälfte daneben landete und Harry in kleinen Rinnsalen über Wangen und Hals lief.Es dauerte nicht lange, da beruhigte sich seine Atmung und er schlitterte unsanft zurück in die Gegenwart.
Er sah Niall vor sich, der ihn mit einem Blick musterte, den er so nicht kannte.
In ihm vermischten sich Sorge und Schock über das, was er gerade gesehen hatte.Der Arzt winkte ihn zu sich. „Mitkommen."
Niall half dem jungen Soldaten auf die Beine und sah ihn eindringlich an. „Geht's dir besser?"
Irritiert sah Harry sich um, blickte in die Gesichter seiner Kameraden, die sich vor ihm versammelt hatten.
Wie unangenehm.Er nickte und versuchte, sich an die vergangenen Minuten zu erinnern.
Doch da war nichts.
Absolut gar nichts.
Niall folgte den beiden in den ärztlichen Unterstand. Harry war noch immer wackelig auf den Beinen, doch sein Kreislauf stabilisierte sich langsam wieder.Während Harry sich auf eine alte Liege setzte, lehnte Niall an der Wand und verschränkte die Arme.
„Sie leiden unter einem sogenannten Shell Shock", diagnostizierte er und ließ sich auf seinem Stuhl nieder. „Vermutlich ausgelöst durch die Gehirnerschütterung, die Sie vor wenigen Wochen erlitten haben. Dabei wurde das Gehirn gegen die Schädeldecke gedrückt und beschädigt."
„Blödsinn", erwiderte Niall prompt. „Er litt bereits vor der Verletzung an diesen Symptomen."„Das mag schon sein", gab der Mediziner zurück. „Aber sie können sich dadurch verstärkt haben."
„Dann müssen alle Soldaten mit dieser Symptomatik eine Gehirnerschütterung gehabt haben", erwiderte Niall. „Aber das haben sie nicht. Und die Betroffenen belaufen sich auf über die Hälfte meiner Leute."
_____________
Ein schönes (und sonniges) Wochenende meine Lieben!
Ist es bei euch auch so heiß? Ich hab das Gefühl, Wien zerfließt😅
Was sagt ihr zu dem Kapitel? Freu mich auf eure Kommentare!:)All the love, Helena xx

DU LIEST GERADE
The Great War
Romance1914. Der erste Weltkrieg tobt seit fünf Monaten, und an der Westfront kämpfen Deutsche und Briten erbittert gegeneinander an. Bei Ypern in Belgien ereignet sich in diesem Jahr ein wahres Weihnachtswunder. Die eigentlich verfeindeten Soldaten legen...