Eine Woche später.
Front.
Die Einheit, die sie abgelöst hatte, hatte unvorhersehbare Verluste erlitten, genau wie sie selbst.
Louis und seine Männer hatten sich ebenfalls eine Woche lang ins Hinterland zurückgezogen, um sich zu erholen.
Nun allerdings tobten wieder heftige Gefechte zwischen den beiden Einheiten, die noch vor kurzem zusammen Weihnachten gefeiert hatten.
Die beiden Armeen kämpften immer erbitterter gegeneinander an, während Harry und Louis sich stetig fragten, ob der jeweils andere eigentlich noch am Leben war.
Die Gesamtsituation machte es Harry schwer, sich zu konzentrieren. Er wusste, dass das gefährlich war und ihn leicht das Leben kosten konnte.
Die düsteren Gedanken in seinem Kopf malten sich aus, wie das wohl sein würde - wäre dann alles vorbei? Wäre es dann endlich besser?
Er versuchte, sich zu konzentrieren. Ein spontaner Angriff der Deutschen musste abgewehrt werden, und sie versuchten mit aller Kraft, die Stellung zu halten, die hart erkämpften Meter der letzten Tage nicht wieder zu verlieren.
Doch ein Durchbruch gelang auch hier auf beiden Seiten nicht.
Sinnlose tote, verwundete und für immer traumatisierte Soldaten.
Harry zitterte am ganzen Körper, als seine Gedanken den Klang der Warnungen übertönten.
Ehe er sich versah, betäubte eine laute Explosion sein Gehör.
Er stand meterweit entfernt, und doch reichte der Lärm aus, um ihn taub werden zu lassen.
Er spürte, wie er nach hinten geschleudert wurde, war sich dabei nicht mehr sicher, ob er selbst taumelte oder die Explosion ihn erwischt hatte.
Er schlug mit dem Kopf auf, kalter Matsch durchnässte Haar und Uniform und ließ ihn bis ins Knochenmark frieren.
Der Lärm war vorbei. Er hörte nichts, sah nur den Rauch über sich und spürte, wie sein Bewusstsein langsam schwand.
Niall sah, wie Harry zu Boden fiel.
Er zögerte keine Sekunde, rechnete mit dem Schlimmsten.
Harry verzerrte das Gesicht vor Schmerzen, dann blieb er still am Boden liegen und hörte auf zu schreien.
Die grünen Augen waren glasig, als Niall sich zu ihm beugte.
Seine Haare klebten in dem Blut einer Wunde, die er sich beim Sturz an der Stirn zugezogen hatte.
Mit einem Schlag waren alle Differenzen zwischen ihnen vergessen. Alles, was der junge Offizier sah, war sein bester Freund, der genauso zu Boden fiel wie vor ihm unzählige andere Soldaten, die nie wieder aufgestanden waren.
Niall packte Harry bei den Schultern und zog ihn aus der Schusslinie, weg von den ohrenbetäubenden Explosionen und den unzähligen Schüssen unmittelbar an der Frontlinie.
Harry bewegte sich nicht, die Augen waren geschlossen und die Gliedmaßen lagen schlaff auf dem Boden.
Panisch gab Niall ihm eine Ohrfeige, in seiner Angst vielleicht etwas zu fest. „Komm schon, Harry", flehte er, betete zu Gott, dass er doch endlich die Augen öffnen möge.
Unglaubliche Angst machte sich in dem jungen Iren breit, der sich eine Welt ohne Harry einfach nicht vorstellen wollte, die Hoffnung allerdings beinahe aufgegeben hatte, als die Augenlider seines Freundes zu flattern begannen; sie öffneten sich, und fielen wieder zu.
„Niall", stammelte Harry, orientierungslos, während er nicht wusste, was um ihn herum geschah. „Mir ist so schlecht..."
Niall stiegen Tränen in die Augen. „Ich weiß", antwortete er und griff erneut nach seinen Schultern. Er sah sich mit vor Angst weit aufgerissenen Augen um, versuchte allerdings, sich nichts anmerken zu lassen. „Versuch einfach, weiter zu atmen, alles wird gut."
Niall brachte ihn unter einen kleinen Verschlag aus Holz, in dem sie vorerst sicher vor den Geschützen der Deutschen waren.
Harry blinzelte, sah sich um, und versuchte die Geschehnisse zu ordnen.
„Was ist passiert?", fragte er, undeutlich, während durch das bloße Aussprechen der Worte diese unglaubliche Übelkeit in ihm nach oben stieg.
„Ich weiß es nicht", antwortete Niall und öffnete die obersten Knöpfe seiner Uniform, um ihn nach äußeren Verletzungen abzusuchen. „Ich glaube, du bist von einer Granate erwischt worden. Ich hab dir doch gesagt, du sollst besser aufpassen, verdammt!"
Mit zitternden Händen tastete er Harry's Brustkorb ab und stellte erleichtert fest, dass auf den ersten Blick keine ernsten Verletzungen erkennbar waren. Zumindest äußerlich. Was noch lange nicht bedeutete, dass er nicht schwer verletzt war.
„Wir müssen dich irgendwie hinter die Frontlinie zu den Krankenträgern bringen", überlegte Niall mit zitternder Stimme, ohne seinen Freund aus den Augen zu lassen. „Denkst du, du kannst aufstehen?"
Noch ehe er seinen Satz ausgesprochen hatte, kamen ihm ernste Zweifel an seiner Frage. Andererseits - was hatten sie für Wahlmöglichkeiten?
Gar keine.
„Ich muss", stammelte Harry, als hätte er Niall's Gedanken gelesen.
Niall rappelte sich auf, ignorierte das wilde Klopfen seines Herzens, die nackte Panik in seinem Brustkorb, die ihm das Atmen schwer machte.
Harry spürte, dass der Schwindel ihm das Gehen unmöglich machte und lehnte sich an Niall's Schulter.
Übelkeit kroch mit einer unbekannten Intensität in ihm nach oben, sein Kopf schmerzte und er versuchte, Niall seinen Zustand mitzuteilen, doch dieser sah ihn nur verwirrt an.
Er sprach zu undeutlich, lallte beinahe, und im nächsten Moment wurde sein Blickfeld wieder schwarz und die Beine gaben nach.
Während er in Niall's Armen zusammensank, versuchte dieser mit aller Kraft, ihn zu halten und nicht noch einmal gewaltsam auf dem Boden aufkommen zu lassen.
„Scheiße", fluchte er lautstark und legte den Kopf seines Freundes in seinen Schoß. „Harry?"
Harry blinzelte, spürte, wie ihm übel wurde, und begann zu würgen.
„Bitte", rief Niall, „Ich brauche Hilfe!"
Er versuchte, Harry zur Seite zu drehen, doch seine Kraft reichte nicht mehr aus. Ganz egal, wie sehr er sich anstrengte, er schaffte es nicht, seinen Freund in eine Position zu bringen, in der das Erbrechen nicht lebensgefährlich war.
Harry begann, bedrohlich oft du würgen. „Mir ist so schlecht", wimmerte er mit zittriger Stimme, und Niall sah sich panisch um, die Augen weit aufgerissen.
Jack, ein groß gewachsener, junger Mann mit aschblondem Haar, ging zufällig vorbei an dem Beschlag, und sah Niall mit Harry am Boden kauern, verzweifelt versuchend, ihn rechtzeitig auf die Seite zu legen.
Er begriff sofort.
„Oh Scheiße", entfuhr es ihm, während er sich ihnen näherte.
Ohne zu zögern beugte er sich zu Niall und griff nach Harry's Beinen, legte das Rechte über das Linke, und zusammen schafften sie es, Harry in eine seitliche Position zu bringen - gerade rechtzeitig, bevor ein Schwall Erbrochenes aus seinem Mund floss.
Niall strich seinem Freund die schulterlangen Locken aus dem Gesicht und bemerkte besorgt, dass Harry am ganzen Körper zitterte.
„Wir müssen ihn zu den Krankenträgern bringen", wiederholte er, und Jack nickte zustimmend.
„Nimm seinen rechten Arm, ich kümmere mich um den Linken", schlug er vor, und Niall brauchte keine zwei Sekunden, um seiner Aufforderung nachzukommen.
Harry spürte, wie sein Körper angehoben wurde.
Allein diese ruckartige Bewegung ließ seine Kopfschmerzen unerträglich werden, und sein Magen zog sich krampfhaft zusammen.
„Mir ist schlecht", wiederholte er, seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, während er kurz auf dem Boden saß, um seinen Kreislauf an die aufrechte Haltung zu gewöhnen.
„Es ist nicht weit", versicherte Jack, und dafür musste er noch nicht einmal lügen.
Sie waren fast da. Nur noch wenige hundert Meter bis hinter die Frontlinie.
„Na los, lass uns versuchen, aufzustehen", drängte Niall, als er bemerkte, dass Harry's Zustand sich weiter verschlechterte.
Die beiden Männer nahmen je einen von Harry's Armen um die Schultern und zogen ihren verletzten Kameraden nach oben.
Harry wusste nicht, ob die Übelkeit von den Kopfschmerzen kam, oder die Kopfschmerzen von der Übelkeit.
Alles um ihn herum schien sich in großen Kreisen zu drehen, unaufhörlich, während er immer wieder das Bewusstsein verlor.
Die schaukelnden Bewegungen, die sein Körper machte, während er mit letzter Kraft bis ins Hinterland getragen wurde, verstärkten seine Beschwerden. Nur mit Mühe konnte er sich auf den Beinen halten.
Um sie herum war es still geworden.
Die Gefechte hatten sich gelegt, und immer mehr junge Männer folgten ihnen auf ihrem Weg ins Lazarett, ihre verletzten Kameraden zwischen sich.
Im Hinterland angekommen, gingen Niall und Jack zielstrebig auf die Männer mit den Bahren zu.
Kurz vorm Ziel verließ Harry die Kraft. Er sank auf die Knie, erbrach sich und schaffte es nicht mehr rechtzeitig, sich nach vorne zu beugen.
In Niall's Blick mischte sich quälende Sorge, als er beobachtete, wie seine Uniform sich mit Erbrochenem tränkte.
Zusammen mit dem Blut an seiner Stirn vermischte sich der Geruch zu etwas säuerlichem.
Einer der Krankenträger kam auf sie zu und half ihnen möglichst sanft, Harry auf eine Bahre zu hieven.
Dieser begriff gar nicht, was um ihn herum geschah. Er fragte sich, was passiert war, vergaß allerdings im nächsten Moment seinen Gedanken. Er war verwirrt, ohne jede Orientierung.
Nachdem die Krankenträger die Bahre nach oben gehoben hatten, spürte Harry erneut eine Welle der Übelkeit über sich hinwegrollen.
Er öffnete die Augen, um ihr zu entkommen, und verschwommen neben sich erkannte er Niall und Jack, die sich einen unsicheren Blick zuwarfen.
„Ich bin so müde...", krächzte Harry, und seine Augen fielen ihm zu.
Niall klatschte unsanft an seine Wange. „Du musst wach bleiben, hörst du? Wir sind gleich da."
Harry schluckte, blinzelte und spürte in der nächsten Sekunde einen Schwall Wasser im Gesicht.
„Nicht einschlafen", wiederholte Niall, beinahe flehend, während ihm die Tränen in die Augen schossen - was wahrlich nicht oft vorkam. „Ich weiß, dass du das kannst."
Harry spürte, wie ihm kalt wurde, er spürte seine Finger und Zehen nicht mehr.
Ein schmerzhafter Stich durchfuhr seinen Kopf, als man die Trage schließlich einige Minuten später auf dem Boden abstellte.
Man hatte ihn in einen mit Stämmen abgedeckten Sanitätsunterstand gebracht.
Eine Krankenschwester kam herbeigeeilt, versuchte sich ein Lächeln abzuringen und sah die jungen Männer fragend an. „Was ist passiert?"
Niall schluckte. „Ich bin mir nicht sicher", gab er wahrheitsgemäß zur Antwort. „Ich habe nur beobachtet, dass er gestürzt ist. Ich glaube, es war eine Explosion."
Die junge Frau nickte, und Niall beobachtete, wie man Harry aus der mit Blut und Erbrochenen befleckten Uniform befreite.
Ein erschöpft aussehender Arzt stand in der Mitte des Raumes, verband Wunden, gab Einspritzungen und erteilte mit ruhiger Stimme Anweisungen.
Man legte Harry auf ein Bett, zusammengedrängt mit vielen anderen Verwundeten, die vor Schmerzen stöhnten. Viele von ihnen waren durch ihre Verletzungen bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Der Arzt verabreichte ihm ein Schmerzmittel und hob die Augenlieder ein Stück weit an. „Sieht mir sehr nach einer starken Gehirnerschütterung aus", überlegte er und beobachtete Harry einen Moment lang. „Er hat ziemlich viele Prellungen, er muss starke Schmerzen haben."
„Mir ist so schlecht...", wiederholte Harry, noch immer nicht ganz bei Bewusstsein, ohne sich sicher zu sein, mit wem er überhaupt sprach.
„Das kann ich mir vorstellen", antwortete der Mediziner und dachte einen Moment lang nach. Schließlich sah er der Schwester einen Moment lang in die Augen. „Wir geben Ihnen gleich etwas gegen die Übelkeit."Louis fand sich am Abend an ihrem üblichen Treffpunkt ein.
Er wartete eine ganze Stunde lang, in der seine Sorge immer größer geworden war.
Wo war Harry bloß?
War ihm etwas zugestoßen?
War er verletzt?
Oder war er gar ... ?
Nervosität breitete sich in seiner Magengegend aus.
Was konnte er tun?
Verdammt, wer würde ihm Gewissheit geben?
Er betete zu Gott, dass Harry nicht tot in einem Schützengraben lag und lieblos in einem Massengrab beerdigt werden würde.
Eine weitere Stunde später stand der junge Leutnant schließlich auf und kehrte zu seinen Truppen zurück - um eine schlaflose Nacht im Dreck zu verbringen, in der jeder Gedanke Harry gehörte._____________
Einen schönen Start in's Wochenende wünsche ich euch!
Na, wie hat euch das Kapitel gefallen? Ich bin gespannt auf eure Meinungen :)All the love,
Helena xx
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The Great War
Romance1914. Der erste Weltkrieg tobt seit fünf Monaten, und an der Westfront kämpfen Deutsche und Briten erbittert gegeneinander an. Bei Ypern in Belgien ereignet sich in diesem Jahr ein wahres Weihnachtswunder. Die eigentlich verfeindeten Soldaten legen...