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"Verbleibende Spielzeit: 90 Minuten."

Eine halbe Stunde saß ich nun mit Chishiya in diesem Bus. Seit einer halben Stunde starrte er konsequent auf den Boden, wir schwiegen uns an und es schien ihn auch nicht zu stören, dass ich ihn wiederrum die ganze Zeit ansah.

"Danke", sagte ich irgendwann, um diese Stille zu beenden. Es machte mich fast verrückt, dass wir kein einziges Wort miteinander sprachen. Chishiya reagierte, in dem er vom Boden aufblickte, dann seinen Kopf in meine Richtung drehte und mich fragend ansah. "Dafür, dass du mich gerettet hast." "Dafür hast du dich schon bedankt", entgegnete er. "Ich weiß", nickte ich. "Aber dafür kann man sich nicht oft genug bedanken", fügte ich hinzu. "Ich dachte, du bist sauer, weil ich es Aguni erzählt hab, obwohl ich es nicht sollte." "Ich habe dir gesagt, dass ich nicht sauer bin. Aber ich habe über deine Worte trotzdem lange nachgedacht. Eigentlich sogar die ganze Nacht. Nach wie vor finde ich es furchtbar, was diese Welt aus einem macht und ich glaube fest daran, dass man irgendwie zusammen überleben kann. Aber so denken nicht alle Menschen, das ist mir klar. Aguni wollte mich schützen, er möchte, dass wir gemeinsam hier aus der Welt rauskommen. Ich weiß, dass er eigentlich ganz anders ist und das nur tut, um zu überleben." Chishiya nickte. "Darf ich dir etwas erzählen?", fragte ich dann. Chishiya zuckte kurz mit seiner Augenbraue, drehte sich dann aber zu mir und öffnete seine Körperhaltung. "Wir haben noch 80 Minuten Zeit. Reicht das für deine Geschichte?", entgegnete er mit einem leichten Lächeln.

"In der realen Welt waren mein Bruder und ich unzertrennlich. Ein Herz und eine Seele, wir konnten uns immer aufeinander verlassen. Egal was passierte, egal was ich gemacht habe, Aguni stand immer hinter mir und unterstützte mich, genauso wie ich es bei ihm tat. Unser Umkreis beneidete uns dafür, dass wir so ein inniges Verhältnis hatten. Aber das war nicht immer so", fing ich an zu erzählen. Chishiya hörte mir aufmerksam zu, das konnte man ihm ansehen. "Als Kinder und junge Teenager haben wir uns gehasst. Egal, was unsere Eltern versuchten, wir haben uns gestritten, beleidigt, ignoriert. Wir konnten uns jahrelang nicht ausstehen und haben sämtliche Familienanlässe wie Geburtstage, Feste ausgelassen, damit wir so wenig Zeit wie nötig miteinander verbringen mussten. Das witzige daran ist, dass ich Aguni insgeheim trotzdem immer bewunderte. Er hatte einen Job, er hatte Freunde. Ich war schon immer der typische Einzelgänger. Ich hatte nur meine beste Freundin, die vor kurzem allerdings mit ihrer Familie ausgewandert ist und meinen Ex-Freund, der mich allerdings betrogen hat und daraufhin die Beziehung zerbrochen ist."

"Wie ist euer Verhältnis besser geworden?", fragte Chishiya dann. "Es war ein Sommertag, mitten in den Ferien. Ich war 17 und war mit meinen Eltern auf dem Weg in den Urlaub. Aguni war 22 und da wir es ja vermieden, Zeit miteinander zu verbringen, blieb er zuhause. Wir waren mitten auf einer Autobahn, mein Vater saß am Steuer und meine Mutter las ihr Lieblingsbuch auf dem Beifahrersitz. Ich saß hinten auf der Rückbank und spielte ein sinnlosen Spiel auf meinem Handy", erzählte ich und lachte dabei kurz. "Auf einmal ertönte ein lauter Knall, mir tat kurz alles weh und dann wurde ich bewusstlos. Als ich aufwachte, lag ich im Krankenhaus und Aguni stand mit dem Rücken zu mir am Fenster."

"Was ist passiert?", fragte Chishiya. "Mein Vater wollte ein anderes Auto überholen. Er zog raus und bemerkte dabei nicht, dass auf seiner Spur ein Geisterfahrer war. Wir hörten kein Radio und bekamen es deshalb nicht mit. Innerhalb weniger Sekunden, fuhr der Geisterfahrer frontal in uns rein. Ich kam schwer verletzt ins Krankenhaus und Aguni wartete so lange in meinem Zimmer, bis ich aufwachte. Die Ärzte erzählten mir, dass er tagelang nicht von meiner Seite wich", erzählte ich weiter. "Was ist mit deinen Eltern passiert?" "Meine Eltern", fing ich an, doch stockte dann. Ich merkte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen und meine Stimme wurde zittrig. "Meine Eltern sind noch bevor sie aus dem Auto befreit werden konnten, gestorben. Es war das letzte Mal, dass ich sie sehen konnte und heute zerbricht es mir das Herz, dass sie mit dem Wissen, dass Aguni und ich uns hassen, gestorben sind und sie nicht mehr mitbekommen haben, wie uns dieses Erlebnis zusammen geschweißt hat", sprach ich, doch konnte meine Tränen nicht zurück halten. Ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen und schaffte es nicht, mich zu beruhigen.

Auf einmal legte Chishiya seinen Arm um meine Schultern. Er war näher zu mir ran gerückt und versuchte mich jetzt mit der Umarmung zu beruhigen. "Ich bin mir sicher, dass eure Eltern wissen, dass ihr jetzt ein gutes Verhältnis zueinander habt", sagte er. Langsam konnte ich aufhören zu weinen und beruhigte mich. "Es tut mir leid, ich wollte nicht anfangen zu weinen", sagte ich dann und löste mich aus seiner Umarmung. "Ist schon in Ordnung. Wenn man Gefühle zeigen kann, ist das nichts Schlechtes", sagte er. Ich lächelte ihn an und wischte die letzten Tränen aus meinem Gesicht. "Warum hast du mir das erzählt?", fragte er dann. Ich überlegte kurz. "Egal, wie viel schlechtes diese Welt hat und wie grausam sie ist, sie hat mich Menschen kennen lernen lassen, die ich schnell in mein Herz schließen konnte", antwortete ich. Kurz dachte ich dabei an Arisu, Karube, Chota und Saori. Wie es ihnen wohl geht, wie viele Spiele sie mittlerweile gespielt haben?

"Kuina zum Beispiel. Sie ist ein sehr herzlicher Mensch und ich mag sie. Aber auch dich, Chishiya. Du lässt es zwar nicht zu und tust viel dafür, um abgegrenzt zu wirken, aber bisher konnte ich dir vertrauen. Natürlich kann es sein, dass ich das nur konnte, weil mein Bruder dich bedroht hat, aber trotzdem. Ich mag dich Chishiya. Ich mag dich sogar sehr, sehr gerne. Und falls du dich einmal irrst und wir bei diesem Spiel sterben werden, dann möchte ich, dass du mich besser gekannt hast, als nur meinen Namen. Zumindest etwas besser."

Magical Hearts » Chishiya || Alice in BorderlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt