17

551 32 13
                                    

"Verbleibende Spielzeit: 40 Minuten."

"Jetzt bist du dran. Erzähl mir etwas über dich", sagte ich und lächelte. "Über mich gibt es nichts zu erzählen", entgegnete er jedoch und steckte seine Hände wieder in seine Jackentasche. "Ach, du bist also in dieser grausamen Welt aufgewachsen und hast nie was anderes gemacht, als diese Spiele zu spielen?", scherzte ich und er legte seine Stirn in Falten, sagte aber nichts. "Komm schon, irgendetwas muss es doch über dich geben. Kindheit, Familie, Schulzeit, Freunde, Ausbildung, Job, irgendwas. Du hast doch nicht den ganzen Tag lang gar nichts gemacht", fragte ich genauer nach, doch Chishiya antwortete nicht, er schwieg.

"Arzt. Ich war Arzt in der realen Welt", fing er dann doch, nachdem weitere 10 Minuten vergangen sind, an zu sprechen. "Arzt? Du hast also anderen geholfen?" "Ich habe es zumindest versucht. Als ich angefangen habe, als Arzt zu arbeiten, war ich voller Optimismus und Hoffnung, anderen Menschen zu helfen, sie zu retten. Ich sah es als meine Lebensaufgabe an, alles in meiner Macht stehende zu tun, um anderen Menschen das Leben zu retten", fing er an zu erzählen. "Was hat sich geändert?", fragte ich dann. "Das System ist nicht so, wie man es sich wünschen würde. Der Mensch steht lange nicht an erster Stelle. Nicht so helfen zu können, wie man möchte, ist nicht so leicht, wenn man zuerst voller Optimismus war. Also hört man auf damit zu denken, man könnte die Welt retten und schließt sich dem System an. Am Ende konnte ich niemandem helfen."

"Ich verstehe", nickte ich. "Ich habe gedacht, ich bin ein guter Mensch, ein guter Arzt. Aber am Ende war ich es nicht. Am Ende geht es immer nur ums Geld, nicht um die Gesundheit. Man versucht nicht alles bis zum bitteren Ende." "Du bist ein guter Mensch", sagte ich dann. Chishiya blickte mir in die Augen. "Warum glaubst du das?" "Ich bin mir sicher", nickte ich. "Es beschäftigt dich. Würde es das nicht tun, dann würdest du mir das gar nicht erzählen. Du bist ein guter Mensch, Chishiya und du warst bestimmt ein sehr guter Arzt. Die Welt ist mehr, als das System es vor gibt. Die persönliche Moral spielt eine wichtige Rolle und als Einzelgänger kommt man nie so weit, wie man im ersten Moment denkt. Es ist nie zu spät, den richtigen Weg einzuschlagen."

Chishiya sah mich an. Ich versuchte seinen Blick zu deuten, doch fiel es mir sehr schwer. Unsere Augen trafen sich sekündlich immer wieder und wir schwiegen uns an. Es schien fast so, als hätten meine Worte etwas in ihm ausgelöst.

Plötzlich fing er an, sich leicht nach vorne zu beugen. Ich wusste nicht, was hier passiert und blieb deshalb starr in meiner Position. Dann legte er seine Hand an meine Wange und näherte sich meinem Gesicht. Ein letztes Mal sahen wir uns in die Augen, bevor seine Lippen meine berührten und mein Körper von einer erfüllenden Wärme überwältigt wurde.

Unser Kuss hielt nicht lange an, aber er war sehr schön. Als wir uns voneinander lösten, sahen wir uns weiterhin in die Augen. "Ich glaube selbst nicht, dass ich das sage, aber ich mag dich auch sehr, sehr gerne, Saskia", sagte er und brach damit die Stille zwischen uns. Ich lächelte ihn an und wollte gerade etwas erwidern, als wir beide ein fremdes Geräusch wahrnahmen. "Was ist das?", fragte ich verwirrt. Chishiya stand auf und lief ein paar Schritte nach vorne, um aus der Frontscheibe raus gucken zu können. Ich stand direkt hinter ihm und wir beide konnten nicht glauben, was wir da sahen. "Runter, schnell!", rief er und drückte mich zu Boden. Fast schon schützend warf er sich auf mich und es dauerte nicht lange, bis der gesamte Bus von der riesigen Wasserflut mitgerissen wurde. Das Ganze fühlte sich fast wie eine Achterbahn Fahrt an und dann stieß ich meinen Kopf gegen etwas hartes, wodurch ich bewusstlos wurde.

"Hey, Saskia, hörst du mich? Hallo?" Ich konnte hören, wie eine Stimme zu mir sprach und wie jemand an meinen Schultern rüttelte. Langsam öffnete ich meine Augen. "Chishiya?", murmelte ich fragend, nachdem ich nach ein paar Sekunden sah, wer da versuchte mich zu wecken. "Gott sei Dank. Komm wir stehen auf." Er hielt mir seine Hand entgegen und half mir dabei, aufrecht zu stehen. Erst jetzt kam ich richtig zu mir. Die riesige Wasserflut hat den ganzen Bus umgerissen. Das war also mit dem Ziel des Spiels, das Ziel wohlbehalten zu erreichen, gemeint. Zusammen verließen wir den Bus, als unsere Handys klingelten. "Ziel erreicht. Herzlichen Glückwunsch", sprach die Computerstimme. "Du hattest Recht", sprach ich Chishiya zu, denn wir waren die ganze Zeit am Ziel. "Ich weiß", nickte er. Dann sahen wir uns wieder in die Augen und ich erinnerte mich an unseren Kuss. Ich wollte gerade etwas sagen, da ergriff Chishiya das Wort: "Sag nichts. Gerade zählt nur, dass wir überlebt haben. Wir beide, zusammen." Er hielt mir seine Hand hin. Ich schaute erst auf diese, dann wieder in sein Gesicht. Er lächelte mich an. Ich erwiderte sein Lächeln, gab ihm dann meine Hand und zusammen liefen wir aus dem Tunnel raus.

Magical Hearts » Chishiya || Alice in BorderlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt