Kapitel 5

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Diese Schreie – ihre Schreie – waren das Einzige, was ich in den nächsten Stunden hörte. Den Schmerz in ihren Augen das Einzige, was ich sah. Und ihr Blut das Einzige, was ich roch. Für Stunden.
Ich wusste, dass es Tage, ja vielleicht sogar Wochen, dauern würde, bis sich diese Eindrücke wieder verziehen würden. Bis ich wieder klarer Denken und Handeln konnte. Und das alles nur wegen einer Erinnerung. Wegen einer Frau.

Ihren Namen konnte ich in all den Jahren nicht in Erfahrung bringen und seit dem Mord an meiner Mutter hatte ich sie auch nicht mehr gesehen. Doch ich erinnerte mich an jedes kleinste Detail.

Langes, weißes Haar mit pechschwarzen Spitzen umrahmten ihr blasses Gesicht so perfekt, wie ein Bilderrahmen ein teures Gemälde – hoben ihre seelenlosen, schwarzen Augen hervor, als wären sie nur dafür gemacht worden. Zwischen ihren schwarzen Fingerspitzen schwebte eine große Glaskugel. Schwarzer Nebel waberte in ihr. Bedrohlich und angriffslustig, bereit freigelassen zu werden.

Alles an dieser Frau wirkte faszinierend und einschüchternd. Angsteinflößend. Tyler und ich hatten es gesehen. Wie sich ihre Augen langsam rot verfärbten. Dann ihre Haarspitzen, die Fingerspitzen und zuletzt der Nebel in der Kugel. Alles wurde blutrot – und meine Mutter begann zu schreien. Je lauter die Schreie und das Leid wurde, desto intensiver wurde das Rot. Als würde sie sich an all dem nähren. Als wäre Schmerz und Leid das Einzige, was sie am Leben hielt.

Meine Mutter starb innerhalb von wenigen Minuten verkrampft auf dem alten Holzboden des Hauses. Einer der Soldaten hatte uns gesehen. Doch anstatt uns zu verraten flüsterte er mir zu: „Lauf, Kleines!"

Tyler musste mich vom Fenster wegzerren und tragen. Ich war noch klein und nicht geschaffen für diese neue Welt. Doch wer war das schon?
Ich war es nicht. Auch heute nicht. Tief in mir wusste ich, dass ich froh war, bei den drein zu sein. In Sicherheit, denn sie wollten mir nichts tun. Und doch wusste ich nicht, was ich beunruhigender finden sollte. Die Tatsache, dass ich seit Monaten wieder von meiner Mutter geträumt hatte oder dass Dean immer noch neben dem Bett saß, als ich aufwachte.

Er ist wirklich geblieben.

Zu meinem Glück bemerkte er nicht, wie ich wach wurde. In der einen Hand hielt er ein Buch und die andere ... sie lag knapp neben meinem Kopf – unter meiner. Ich erinnerte mich wage daran, wie ich sie beim Aufwachen gegriffen hatte. Wie ich ihn bat, mich nicht allein zu lassen. Er schien sich kein bisschen daran zu stören. Oder er hatte mehr Zeit gehabt sich daran zu gewöhnen als ich.

Wollte ich das? Mich daran gewöhnen?

Dean seufzte leise und blätterte eine weitere Seite um. Braune Augen sprangen von Wort zu Wort, so schnell wie ich es niemals könnte. Seine Lippen bewegten sich, als würde er tonlos mitsprechen. Wie seine Stimme wohl klang, wenn er laut las?

Ich hatte keine Zeit, mich für diesen Gedanken zu rügen. Denn er ließ das Buch in seinen Schoß sinken und bevor er mich ertappen konnte, schloss ich meine Augen.
Seine Hand drehte sich unter meiner, dann war da weiche Haut, die über meinen Handrücken wanderte. Zart, kaum spüren und doch schickte sie mir eine Gänsehaut über meinen Arm.

»Was hast du nur alles durchgemacht«, fragte er leise, gleichzeitig strich er mir einzelne Strähnen aus der Stirn. Seine Berührung wanderte weiter meine Wange entlang. Ein Teil in mir ermahnte mich, diesen Kontakt nicht zu zulassen. Und wahrscheinlich hatte dieser Teil Recht.

Doch da war noch etwas anderes in mir, was diese Zärtlichkeit aufsaugte. Meine Brust füllte sich und ich bekam einen Kloß im Hals – dieses Gefühl... was war das?
Es schnürte mir die Luft ab, auf so eine wundervolle Weise, dass ich leise seufzte. Ohne nachzudenken reckte ich mich ihm entgegen, wollte mehr von dieser Berührung und diesem Gefühl, welches er auslöste.

Long WayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt