Völlig verdattert blieb ich mit Ethan zurück. Noch immer waren meine Gedanken durcheinander, aber vor allem konnte ich Daryl auf meiner Haut fühlen; ihn in mir, auch wenn wir nicht zum Ende kamen. Das frustrierte noch mehr. Unabhängig davon war nun nicht der richtige Zeitpunkt sich Gedanken darüber zu machen, weil ich den forschen Blick von Ethan bemerkte. Er war nicht bloß traurig, sondern enorm angepisst, was ich auch verstand. Er war ja nicht blöd. Außerdem sagte er schon, dass er uns roch und mit uns wahrscheinlich auch, dass ich mit Nolan weiterging, wie wir hätten tun sollen.
Verschämt schaute ich zu meinen Füßen. Ich kam nicht einmal dazu meinen rechten Schnürsenkel zu schließen, was ich dann doch eilig machte, nur um überhaupt etwas zu tun. Im Anschluss wandte ich weiterhin den Blick ab. Mist, so sollte das nicht laufen. Wenn er mich mit solchen eindringlichen Augen anschaute, bekam ich erst recht ein schlechtes Gewissen. »Du solltest mir jetzt mal sagen, was der Mist soll. Was will er? Wissen wo dein leiblicher Vater ist?« Ethan wirkte noch immer angespannt, als er das fragte. »Was weiß ich denn! Ich kann es dir nicht sagen. Er taucht hier auf und will wissen wo er steckt. Das ist doch kompletter Irrsinn!« Seine Mimik wirkte forschend und ließ verlauten: »Dann weiß er, dass dein Vater einer von uns ist, sonst würde er ihn nicht finden wollen. Ich verstehe nur nicht, was er von ihm will.«
Ethan klang skeptisch. Genauso wie ich mich fühlte. »Ich weiß es auch nicht. Ich kenne ihn nicht einmal und habe ihn nie kennengelernt. Außerdem hat meine Mutter nie etwas von ihm erzählt und beim genaueren darüber nachdenken, weiß ich, dass sie auf jeden Fall ein Mensch ist. Sie ist nicht, wie du. Da bin ich mir ganz sicher!« und einen kurzen Moment ging mir durch den Kopf, wie sie zu mir gewesen war. Dass sie nie den Kontakt zu mir suchte zeigte, dass sie keinerlei Interesse an mir hegte, auch jetzt nicht mehr. Ich hätte traurig darüber sein müssen, aber was man nicht kannte, konnte man auch nicht vermissen. Jedoch sah ich es bei Daryl damals und wie seine Eltern mit ihm umgingen.
Zwölf Jahre zuvor...
Ich trete in das hübsche Häuschen am Rande der Kleinstadt und sauge den vertrauten Geruch in mich auf. Ich liebe diese Wände wie verrückt. Das ist all das, was ich wohl niemals haben werde und dennoch kann ich zu einem Teil davon kosten. Manchmal macht es mich traurig. Bisher hatte ich das nie. Eine eigene Familie. Zumindest nicht die, die Daryl besitzt. Das ist etwas ganz anderes. Seine zierliche Mutter sorgt sich um ihn und wartet am Fenster, wenn er nicht Punkt genau auf die Minute zurückkommt. Sein Vater hingegen ist groß, sieht aus wie ein Bär und ist genauso freundlich. Ihn sehe ich, wenn dann erst gegen Abend, wenn mir erlaubt wird, dass ich bei ihnen Abendbrot essen darf. Da er schon etwas älter ist, hat er beim Lachen immer lustige Falten.
Wenn Daryl etwas gut macht, klopft er ihm auf die Schulter und lobt ihn. In diesen Situationen fühle ich mich dann doch schon etwas komisch, weil ich das nicht kenne. Wir werden in dem Heim, in dem ich lebe, nicht groß in den Arm genommen. Zwar wird uns immer mal gesagt, wenn wir etwas gutmachen, doch dieses Liebevolle und Vertraute erleben wir nicht. Niemand ist richtig stolz. Bei uns steht noch immer eine gewisse Distanz zwischen Kindern und Angestellten. Immerhin sind sie nicht unsere Eltern. Zwar versuchen sie es uns so schön wie möglich zu machen, doch ein Zuhause ist es für mich auch nach dieser langen Zeit noch nicht.
»Setz dich doch, June. Möchtest du ein paar Plätzchen? Ich habe gebacken.« Daryls Mutter kommt mit einer Schüssel an, noch bevor ich meine Schuhe überhaupt ausziehen kann, ergreift sanft meinen Arm und zieht mich ins Wohnzimmer zur Couch. »Daryl hat mit schon vertaten, dass ihr einen Vortrag in Biologie zusammen habt und dafür noch etwas heraussuchen müsst.« Mit einem Blick auf den Tisch erkenne ich seinen Laptop, der schon bereitsteht, sowie Blöcke und ein paar Bücher. Immerhin musste ich zuerst im Heim Bescheid geben. Zugleich lasse ich mir die Schüssel in die Hand drücken und genieße einen kurzen Moment, wie sie mir sanft über die Wange streichelt.
DU LIEST GERADE
Midnight - Ruf der Wölfe
WerewolfWas, wenn du in eine Welt tauchst, die du niemals für möglich hältst? Das erlebt die junge June Glayton, die auf einen dunklen Pfad des Unwirklichen gerissen wird. Sie erkennt schnell, dass Realität und Fantasie nahe beieinanderliegen. Dinge gesche...