Alice Springs war eine interessante Stadt und so vollkommen anders als Sydney. Eine Stadt umgeben von Wüste und Steppe, weitaus weniger glamourös, ohne Hochhäuser und mit vom Outbacksand rot verfärbten Straßen. Außerdem zeigte Alice Springs noch eine ganz andere Seite von Australien. Die der traurigen Geschichte.
In Sydney begegnete man nur wenigen Aborigines, wenn man mal von denjenigen absah, die für die Touristen im Zentrum Didgeridoo spielten, um sich ein wenig Geld zu verdienen. Hier in Alice Springs bot sich mir ein anderes Bild. Alkoholabhängige Aborigines, die um die Supermärkte herumlungerten und bettelten. Vermutlich arbeitslos, ohne jede Perspektive. Menschen, denen man vor Jahrhunderten die Identität geraubt hatte, deren Familien man noch im 20. Jahrhundert auseinandergerissen hatte und deren heilige Stätten man als Touristenattraktionen missbrauchte. Australien hatte die Aborigines nicht gut behandelt und das wirkte sich auf viele bis heute aus. Alice Springs spiegelte diesen Umstand wider.
Ich hielt auch das mit meiner Kamera fest. Die Aborigines hatten eine genauso traurige Geschichte wie ich. Man hatte ihnen die Kinder entrissen, so wie Leonie mir entrissen worden war. Es gab sogar einen Begriff dafür: The Stolen Generation. Ich fühlte mich auf eine seltsame Weise mit ihnen verbunden. Ich fühlte ihren Schmerz, den sie über Generationen hinweg weitervererbten. Denn auch mir hatte man meine Schwester gestohlen.
Erneut hob ich meine Kamera und hielt eine Szene fest, die sich vor mir abspielte. Zwei kleine Kinder wuselten über den Parkplatz vor dem Supermarkt, mit nichts mehr bekleidet als einer Unterhose. Sie gehörten zu einer Frau, die mir vorhin schon einmal begegnet war. Auch sie waren Aborigines und sie sahen ähnlich ärmlich aus wie die Obdachlosen, die ich gesehen hatte. Irgendwie machte mich das alles traurig. Sobald ich heute Abend wieder im Hotel war, würde ich mich informieren, ob es Hilfsorganisationen gab, die diese Familien unterstützten. Vielleicht konnte ich ja etwas spenden?
Doch zunächst brauchte ich Proviant für meine Reise zum Uluru. Morgen ging es bereits los. Den Mietwagen konnte ich um zehn Uhr abholen, anschließend würde ich zum größten Abenteuer meines Lebens aufbrechen.
Ich kaufte einen großen Wasserkanister, Knäckebrot und haltbare Brotaufstriche. Nichts, was in der Wärme allzu schnell schlecht wurde. Außerdem packte ich Cookies und Brownies in meinen Einkaufswagen. Ich war eine kleine Naschkatze, ohne Schokolade kam ich nicht durch den Tag. Da diese aber in der Hitze schmelzen würde, entschied ich mich für die schokohaltigen Backwaren. Ein Grinsen zog über mein Gesicht, als ich daran dachte, in einen der leckeren Brownies zu beißen.
Als ich den Coles verließ, schüttelte ich stöhnend den Kopf. Manchmal dachte ich einfach nicht genügend nach, bevor ich handelte. Sollte man bei meinem guten Abitur nicht denken. Aber warum kaufte ich einen 10-Liter-Wasserkanister, wenn ich zu Fuß unterwegs war? Morgen hätte ich ein Auto, mit dem ich alles transportieren könnte. Ich war einfach nicht hundertprozentig bei der Sache. Der Versuch, die Gedanken an Leonie auszublenden, brachte auch alles andere durcheinander. Es vernebelte mir den Verstand, denn ich unterdrückte einen Teil von mir, der mich seit Jahren bestimmte.
Okay, dann gibt es eben eine kleine Planänderung.
Ich wollte mich nicht durch solche Kleinigkeiten aus der Bahn werfen lassen. Nicht, wenn morgen ein so großes Abenteuer auf mich wartete. Außerdem war ich hier, um meine Probleme zu verarbeiten. Ich musste lernen, mir nicht von Kleinigkeiten die Laune vermiesen zu lassen. Leonie würde mir jetzt vermutlich genau das sagen. Also entschied ich mich, direkt zurück ins Hotel zu fahren. Den Rest von Alice Springs konnte ich mir auch noch anschauen, wenn ich von meinem Roadtrip zurückkam. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, mir heute ein wenig mehr Ruhe zu gönnen. Auf diese Weise hatte ich sogar mal Zeit, alle Fotos von meiner Kamera anzuschauen. Dann konnte ich auch ein paar schöne nach Hause schicken, die qualitativ viel hochwertiger waren als die Fotos, die ich mit meiner Handykamera aufnahm, um sie mit meinen Eltern oder Freunden zu teilen.
Im Hotelzimmer angekommen, fiel ich keuchend aufs Bett. Der schwere Wasserkanister hatte es mir nicht leicht gemacht, die Treppen in den dritten Stock zu erklimmen, nachdem die Rezeptionistin mir mit Händen und Füßen erklärt hatte, dass der Fahrstuhl seit dem Morgen kaputt war.
Eine Weile blieb ich reglos liegen. Unbehaglich spürte ich, wie meine Brust sich zusammenzog und sich Tränen unter meinen geschlossenen Lidern sammelten.
Nein, nicht jetzt! Nicht jetzt!
Wie so oft überfielen mich die Gefühle plötzlich und mit voller Wucht. Ich fühlte mich schrecklich einsam. Leonie fehlte mir so sehr! Sie sollte hier im Bett neben mir liegen, wir sollten uns gemeinsam auf den anstehenden Roadtrip freuen. Wie sollte ich es nur jemals schaffen, ein unbeschwertes Leben ohne sie zu führen? Der Teil meines Herzens, der ihr gehörte, schmerzte so sehr, als hätte ihn jemand mit tausenden Nadeln durchbohrt. Keuchend griff ich mir an die Brust, drückte auf mein Herz und wartete sehnlichst darauf, dass der Schmerz verging.
Doch das würde er nicht. Er war mein ständiger Begleiter, auch wenn ich ihn in den letzten Tagen auszublenden versucht hatte.
Ein Schluchzen entfuhr meiner Kehle.
Wo bist du nur, Leonie? Warum hat er dich mir weggenommen? Wo hat er dich hingebracht?
Die Polizei hatte bis heute keine Erfolge in den Ermittlungen erzielt. Das Auto, mit dem Leonie entführt worden war, war ausgebrannt in einem Waldstück in der Nähe unseres Dorfes gefunden worden. Es war gestohlen gewesen und durch das Feuer hatte die Polizei keine brauchbaren DNA-Spuren sichern können.
Seither war jede Spur ins Leere gegangen. Ich wusste, dass die wenigsten noch daran glaubten, dass Leonie am Leben war. Es war zehn Jahre her, in zehn Jahren konnte so viel passieren. Doch ich weigerte mich, zu glauben, dass sie tot war. Es war so ein Gefühl. Ich war mir sicher, dass ich es gespürt hätte, wenn sie von mir gegangen wäre. Wenn ein Teil in mir gestorben wäre. Nein, Leonie war noch am Leben. Aber wo? Und wie ging es ihr? Musste sie leiden?
Die Gedanken erdrückten mich und ich schoss schwer atmend vom Bett. Ich musste mich ablenken, sonst würden die Emotionen mich unter sich begraben und ich würde die restliche Nacht mein Kissen mit Tränen tränken, so wie ich es so viele Nächte zuvor getan hatte.
Kümmere dich um die Bilder! Schau dir die Fotos an!
Auf weichen Knien ging ich zu dem kleinen Tagesrucksack, in dem ich die Kamera verstaut hatte, und nahm den Laptop aus meinem Gepäck. Die Bilder der ersten drei Tage in Sydney hatte ich bereits rübergeladen, der Rest und die Fotos von Alice Springs würden jetzt folgen. Ich hoffte, dass mich das auf andere Gedanken brachte.
Mit feuchten Augen beobachtete ich den Balken, der immer größer wurde, während er mir in Prozenten anzeigte, wie viele Fotos bereits auf meinen Laptop geladen waren. Bei hundert Prozent warf ich meine SD-Karte aus und klickte auf das erste Bild.
Die Fotos flogen an mir vorbei, ohne dass ich sie wirklich wahrnahm. Ich war so dumm gewesen, zu glauben, dass diese Reise etwas ändern sollte. Meine Gefühle würden sich niemals ändern. Leonie war irgendwo da draußen und wartete darauf, dass man sie rettete. Aber niemand kam, um sie zu retten. Und ich machte stattdessen Urlaub, versuchte, meine eigene Zwillingsschwester aus meinem Leben zu verbannen und glücklich zu sein. Was war ich nur für ein Monster?
Da waren wieder die beiden Kinder vor dem Supermarkt. Auch sie hatten eigentlich wenig Grund zum Lachen und doch spielten sie vergnügt in ihren Unterhöschen auf dem Platz. Warum schaffte ich das nicht?
Erneut kamen mir die Tränen und ich starrte das Bild an, als würde es mir etwas sagen wollen. Als wollten die Kinder ihre Weisheit mit mir teilen und ich musste nur gut genug hinsehen, um zu begreifen, wie einfach es sein konnte, glücklich zu sein.
Doch plötzlich durchzuckte mich ein Blitz, elektrisierte mich und ließ mich erstarren. Ich konnte zuerst gar nicht greifen, was mich dermaßen getroffen hatte, bis ich meinen Blick zurück zu jenem kleinen Punkt wandern ließ, der Ursache für mein Erstarren war. Mein Herz setzte einen Moment aus und mir wurde heiß. Innerhalb weniger Sekunden stand meine Welt auf dem Kopf. Mein Herz raste nun so schnell, als wäre ich gerade einen Marathon gerannt.
Konnte das sein? War das – nein, ich musste mich täuschen!
Meine Hand zitterte, als ich in das Bild hineinzoomte, um das Gesicht zu vergrößern, das ich in der Menschenmenge vor dem Supermarkt entdeckt hatte.
War das Leonie?

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Das Foto - Entzweit
Mystery / ThrillerZehn Jahre, nachdem ihre Zwillingsschwester Leonie direkt vor den Augen der gehörlosen Luisa entführt wurde, reist die inzwischen 20-Jährige alleine nach Australien, um sich damit einen Traum zu erfüllen und das Trauma zu überwinden, das sie seit da...