9 Roadtrip

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Ich kämpfte weiterhin mit den Tränen. Was hatte ich nur angerichtet? Wo brachte dieser Mann uns hin? Die Landschaft vor den Fenstern flog an mir vorbei, ohne dass ich sie wirklich wahrnahm. So lange hatte ich von einem Roadtrip durch das Outback geträumt, doch das hier hatte damit nichts zu tun. Meinen Roadtrip hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Nicht in Handschellen und nicht in der Gewalt eines Fremden.

Ein stummes Schluchzen erschütterte meinen Körper, während ich zu verarbeiten versuchte, was gerade passierte. Warum war Leonie nicht hier hinten bei mir? Warum konnten wir uns jetzt nicht wenigstens Nähe und Trost spenden?

Da entdeckte ich plötzlich eine Hand, die zwischen dem Vordersitz und der Außenwand des VW-Busses zum Vorschein kam. Mein Herz machte einen Satz und ich schniefte. Das war Leonies Hand! Sie suchte meine Nähe!

Erfüllt von übersprudelnden Glücksgefühlen rieb ich meine Tränen am T-Shirtstoff meiner Schultern trocken und versuchte anschließend, mich so unauffällig wie möglich nach vorn zu beugen, um Leonies Hand zu erreichen. John Miller durfte nichts davon mitbekommen. Dass ich meine rechte Hand zu ihrer linken führen musste, machte die Sache nicht einfacher. Als sich unsere Fingerspitzen das erste Mal berührten, elektrisierte es meinen ganzen Körper. Es war die pure Liebe, die sich von unserer kleinen Berührung in alle Glieder ausbreitete. Gierig kam ich meiner Schwester noch ein wenig näher und umfasste ihre ganze Hand.

Das Gefühl war unbeschreiblich. Ich fand keine Worte dafür. Alles um mich herum verschwand. Mein ganzes Universum bestand aus der Berührung unserer Hände, eine Nähe, die ich zehn Jahre lang vermisst und herbeigesehnt hatte. Es war, als würde eine Wunde tief in mir heilen. Der Teil von mir, den John Miller mir vor so vielen Jahren entrissen hatte, wurde wieder ganz. Leonie ergänzte mich. Ich fühlte mich das erste Mal wieder vollständig. Wir waren endlich wieder eins, endlich wieder in Liebe verbunden.

Ich wünschte mir, dass dieser Moment nie vergehen würde. Dass wir uns nie wieder loslassen mussten.

Doch dann löste Leonie sich aus der Berührung. Die wohlige Wärme ich meinem Inneren wurde von einer plötzlichen Kälte vertrieben, die Leonies Rückzug in mir auslöste. Warum ließ sie meine Hand los? Konnte sie meine Berührung nicht mehr ertragen? Meine Augen schimmerten feucht, als ich überrascht entdeckte, wie ihre Finger sich bewegten. Perplex folgte ich ihren Bewegungen und konnte mein Glück kaum fassen, als ich begriff, dass sie mit mir sprach. Sie fingerte!

„Ich hab dich so vermisst, Luisa. Ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt."

Ihre Worte trafen mich mit einer Wucht, dass ich mir ein lautes Schluchzen verkneifen musste, um John Miller nicht auf uns aufmerksam zu machen. Was sie sagte, bedeutete mir so unheimlich viel! Ich hatte nie geglaubt, diese Worte je wieder von ihr zugesprochen zu bekommen. Glückselig wollte ich gerade nach ihrer Hand greifen, um ihr zu antworten, als sich ihre Finger erneut bewegten. Vorsichtig lehnte ich mich in meinem Sitz zurück, um ihren Bewegungen besser folgen zu können und keinen Verdacht in John Miller zu wecken.

„Es tut mir leid, dass du nun auch hier bist. Ich habe immer versucht, das zu verhindern, aber ich konnte natürlich nicht ahnen, dass du selbst herkommen würdest."

Eine Träne lief über meine Wange und ich schluckte. Mein Inneres war zerrissen zwischen den Selbstvorwürfen, die ich mir machte und der Freude darüber, endlich wieder mit meiner Zwillingsschwester vereint zu sein, ganz egal ob es in Freiheit oder in der Gewalt eines Mannes war. Hauptsache, wir hatten uns wieder! Nichts auf der Welt war mir wichtiger.

„Wir fahren nach Coober Pedy. Das ist eine Stadt, in der die Menschen wegen der extremen Sommerhitze in unterirdischen Wohnhöhlen leben. Jonathan hat dort einen Freund."

Jonathan? So hieß der Mann? Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Er hieß aber nicht ernsthaft Jonathan Müller, oder? Da hätte er sich ja den kreativsten Decknamen aller Zeiten ausgedacht. Doch ehe ich mich darüber lustig machen konnte, kam bei mir an, was Leonie noch gesagt hatte. Höhlen? War das ihr Ernst? Dort brachte Jonathan uns hin? Würde er uns in einer dieser Höhlen gefangen halten? Würden wir dann je wieder das Tageslicht sehen? Die Gedanken gingen bereits mit mir durch, bis ich erschrocken bemerkte, dass Leonie wieder fingerte. Hatte ich etwas verpasst?

„...danach weitergeht, weiß ich nicht."

Ich schluckte. Wir fuhren in eine ungewisse Zukunft. Das war beängstigend. Aufgewühlt drehte ich meine linke Hand in der Handschelle. Die Druckstelle schmerzte bereits und ich spürte, wie das Blut aus den Fingern wich. Wie lange würden wir unterwegs sein? Wie lange musste ich an den Griff gefesselt ausharren? Und – wie ging es danach weiter?

Ich kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn Leonie fingerte bereits weiter. Sie hatte offensichtlich ein großes Bedürfnis, sich mit mir auszutauschen. Wann war wohl das letzte Mal gewesen, dass sie mit einem liebevollen Menschen gesprochen hatte? Hatten sie auf der Farm manchmal Besuch bekommen und wenn ja, hatte sie ihn treffen dürfen? Hatte sie ihn überhaupt treffen wollen oder waren alle Besucher genauso kriminell wie Jonathan? Mein Herz schmerzte, als ich darüber nachdachte, wie einsam Leonie seit zehn Jahren sein musste. Wie sehr sie sich in all der Zeit gewünscht haben musste, sich bei jemandem ausweinen, sich an eine liebende Schulter lehnen oder einfach mit jemandem reden zu können. Mit jemandem, der sie verstand und ihr Trost spendete. Der für sie da war. Ihr zuhörte. Diese Chance schien sie nun zu ergreifen. Auch wenn sie meine Reaktionen nicht sehen konnte, weil sie starr geradeaus blickte, um keinen Verdacht zu erwecken, konnte sie es offensichtlich nicht abwarten, mit mir zu sprechen. Mir etwas zu erzählen.

Ich war gespannt, was sie mir erzählen wollte. Ging es darum, was uns erwartete? Oder erfuhr ich, worüber ich zehn Jahre lang verzweifelt gegrübelt hatte? Was mit ihr passiert war, nachdem sie von einem Fremden in ein Auto gezerrt worden war?

Als sie zu erzählen begann, stockte mir der Atem. Gänsehaut überzog meinen Körper, obwohl in dem alten VW-Bus ohne Klimaanlage die Hitze stand. Leonie erzählte von den letzten zehn Jahren! Ich konnte kaum glauben, dass ich tatsächlich nach so langer Zeit Antworten auf all meine Fragen bekam. Passierte das gerade wirklich? Oder steckte ich noch immer in einem Traum? Einem Traum, der mir einen verzweifelten Weg aufzeigte, endlich Antworten zu finden?

Gebannt und zugleich entsetzt folgte ich Leonies Worten. Die Finger ihrer linken Hand bewegten sich in einer Geschwindigkeit, die ich bewunderte. Hatte sie in den letzten zehn Jahren weiterhin das Fingern geübt, obwohl ich nicht da gewesen war? Ich hätte gedacht, dass sie es inzwischen verlernt haben müsste.

Ihre Erzählung dauerte zwar sehr viel länger, als wenn wir miteinander gebärden könnten, aber immerhin hatte sie trotz unserer misslichen Situation einen Weg gefunden, sich mir zu öffnen. Immer wieder warf ich einen besorgten Blick zu Jonathan, doch er schien nichts zu bemerken. Er wähnte sich auf der sicheren Seite und glaubte, dass wir uns nicht unterhalten konnten, weil ich weder hören noch sprechen konnte. Oh wie sehr er sich täuschte. Gerade weil ich gehörlos war, konnten wir uns austauschen, ohne ein Geräusch von uns zu geben. Denn wir brauchten keinen Mund und keine Ohren, um uns zu unterhalten. Wir brauchten lediglich unsere Hände. Und die hatten wir.

So erfuhr ich endlich, was in all den qualvollen Jahren des Bangens und der Ungewissheit, ob meine geliebte Zwillingsschwester noch lebte, passiert war.

Das Geheimnis wurde endlich gelüftet.


Das Foto - EntzweitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt