Nachdem ich Alice Springs mehrere Kilometer hinter mir gelassen hatte, regierten die Zweifel meinen Geist. War ich vollkommen übergeschnappt? Hätte ich nicht doch besser zur Polizei gehen und sie zu der Adresse schicken sollen? Aber wie hoch war schon die Wahrscheinlichkeit, dass sie mir glaubten und meine Hinweise ernstnahmen? Sie ging gleich Null! Die australischen Behörden kannten den Fall nicht einmal. Vermutlich würden sie zu Hause in Deutschland anrufen und dort würde man ihnen erzählen, dass ich Leonie schon oft irgendwo entdeckt hatte und man mich doch bitte mit einem freundlichen „Wir werden uns das mal ansehen" wegschicken solle. Nein, das hatte Leonie nicht verdient. Jemand musste dieser Spur nachgehen, der ersten Spur seit Jahren, die vielversprechend war.
Ich setzte den Blinker und fuhr links ran. Nur, um ein letztes Mal sicherzugehen, nahm ich noch einmal das Foto zur Hand, auf dem die junge Frau zu sehen war.
Es bestand kein Zweifel. Ich war mir noch immer zu hundert Prozent sicher, dass es Leonie war. Konnte ich so blind sein? Konnte ich mir das wirklich einbilden? Nein. Ganz bestimmt nicht.
Das war Leonie. Ich musste es nur dem Rest der Welt noch beweisen.
In meinem Vorhaben bestärkt drückte ich wieder aufs Gas. Ich durfte keine Zeit verlieren. Wenn alles klappte, war Leonie womöglich heute Abend schon ein freier Mensch. In drei Stunden war ich bei der Farm. Sobald ich Leonie zu Gesicht bekam und filmen konnte, wie sie mit mir gebärdete, konnte ich das Video meinen Eltern und der Polizei schicken. Man würde eine Einsatztruppe herschicken, Leonie dort rausholen und ihren Entführer überwältigen. All das konnte heute noch passieren! Den Teufel würde ich tun und umdrehen. Nein, ich war die einzige Hoffnung für Leonie und ich würde das hier durchziehen, bis Leonie gerettet war.
Während der Fahrt wurde ich immer nervöser. Was würde mich auf der Farm erwarten? Konnte ich mich ihr überhaupt ungesehen nähern? Was, wenn der Entführer mich entdeckte? Mein ganzes Vorhaben war viel zu schlecht planbar, solange ich nicht wusste, worauf ich mich einließ. Ich hielt erneut am Straßenrand – hier draußen im Outback war ohnehin nichts los – und schaute mir die Adresse noch einmal genau auf meinem Handy an. Ich stellte die Anzeige auf Satellit um und versuchte mir die Gegend genau vorzustellen. Es schien tatsächlich ein wenig hügelig zu sein. Ein Haus und zwei Scheunen standen auf dem großen, weitläufigen Grundstück.
Mir wurde schwer ums Herz, als mir bewusst wurde, dass ich womöglich gerade auf das Haus starrte, in dem Leonie die letzten zehn Jahre gefangen gehalten wurde. Schnell schüttelte ich den Kopf und löste meinen Blick vom Handy. Ich musste einen klaren Kopf bewahren und durfte mir nicht erlauben, zu emotional zu werden.
Nach einem tiefen Atemzug drückte ich wieder aufs Gas. Ausnahmsweise bedauerte ich, dass ich das Radio nicht voll aufdrehen konnte, um mich abzulenken. Leonie hatte mir mal erklärt, dass es ihr helfe, Musik zu hören. Ich hingegen war meinen Gedanken hilflos ausgeliefert, die sich unaufhörlich im Kreis drehten und es mir schwer machten, mich auf die Straße zu konzentrieren. Die Nervosität breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Verdammt, wie sollte ich das noch zwei ganze Stunden durchhalten?
Angestrengt versuchte ich meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Das erste Mal begann ich meine Sehnsucht, nach Australien zu kommen, zu hinterfragen. Hatte sie womöglich all die Jahre ganz andere Gründe gehabt als die bloße Faszination für dieses Land? Hatte ich auf eine seltsame Weise gespürt, dass Leonie hier war? Hatte es mich deshalb immer hierher gezogen? Plötzlich kam mir das sehr plausibel vor und ich hasste mich selbst dafür, dass ich meinem Drang nicht viel früher nachgegeben hatte. Warum hatte ich meine Eltern nicht darum gebeten, mit mir im Urlaub nach Australien zu fliegen? Hätte ich Leonie dann womöglich schon viel früher gefunden? Warum nur hatte ich mir jahrelang verwehrt, glücklich zu sein? Ich hatte es unfair gefunden, mit meinen Eltern eine so große Reise zu unternehmen – ohne Leonie.
Die Wut in meinem Bauch drohte mich aufzufressen und ich atmete schwer. Tränen standen in meinen Augen und ließen die Straße vor mir verschwimmen. Leonie tauchte vor mir auf und ich sah zu, wie sie verzweifelt zu mir gebärdete: „Hilf mir, Luisa!" Sie hatte sich auf mich verlassen, hatte darauf gehofft, dass ich ihr helfen würde und ich hatte zehn Jahre lang nicht begriffen, dass sie noch immer nach mir rief. Dass der Schlüssel, sie zu finden, darin bestand, einfach zu leben. Zu leben und Freude zuzulassen. Nach Australien zu reisen. Warum war ich nur so dumm gewesen?
Du konntest es nicht wissen! Dass sie hier ist, ist ein Zufall, mehr nicht. Es ist ein Zufall!
Doch ich schaffte es nicht, mich selbst davon zu überzeugen. Das Wissen, dass ich Leonie schon vor Jahren hätte retten können, fraß sich wie Gift durch meine Adern. Ich schluchzte und schrie stumm auf. Tränen benetzten meine Wangen und es fiel mir schwer, der Straße weiter zu folgen. Dennoch nahm ich meinen Fuß nicht vom Gas. Ich war entschlossener denn je, Leonie endlich zur Rettung zu eilen. Ihr endlich zu helfen, so wie sie es sich schon vor zehn Jahren von mir gewünscht hatte.
Ich wusste selbst nicht, wie ich die restliche Fahrt überstanden hatte. Das Outback war an mir vorbeigezogen, ohne dass ich es wahrgenommen hatte. Die ganze Fahrt hatte ich in einem tranceähnlichen Zustand verbracht und es war ein Wunder, dass ich überhaupt heil an meinem Ziel angekommen war.
Die schriftliche Ankündigung des Navis „Sie haben Ihr Ziel erreicht" hatte mich schlagartig aus meiner Trance gerissen. Mein Herz schlug wie verrückt, als ich ruckartig auf die Bremse drückte. Angst kroch wie ein leiser Feind durch meine Adern, der bereit war, jederzeit zuzuschlagen.
Ich hatte mein Ziel erreicht. Nach der nächsten Kurve hinter einem kleinen Hügel lag die Farm. Das Haus, in dem ich meine Schwester vermutete. Die restlichen Meter würde ich zu Fuß gehen, denn ich wollte nicht riskieren, gesehen zu werden. Ich wusste, dass ein Auto Geräusche machte, aber ich hatte keine Ahnung, wie laut es war. Um auf Nummer Sicher zu gehen und mich nicht schon von weitem anzukündigen, hatte ich daher nicht bis direkt ans Haus fahren wollen.
Mit zittrigen Knien stieg ich aus. Ich nahm mein Handy und meine Kamera zur Hand und stieg auf den kleinen Hügel, um mir zuerst einen Überblick über die Umgebung zu verschaffen. Hinter einem Busch ging ich in die Knie und starrte von Emotionen überwältigt auf das Wohnhaus, das ich wenige Meter unter mir erblickte. Es sah ein wenig heruntergekommen aus und könnte eine Renovierung gut gebrauchen. Der Holzlack der Fassade blätterte an einigen Stellen ab. Vor dem Haus standen ein Auto, ein größerer Pickup und ein alter VW-Bus. Wenige Meter hinter dem Haus waren die zwei Scheunen, die ich auch bei der Satellitenansicht gesehen hatte. Dort entdeckte ich noch zwei Quads.
An Fahrzeugen mangelte es John Miller nicht. Konnte Leonie wirklich hier sein? Hätte sie nicht irgendwann die Chance genutzt, eines dieser Fahrzeuge für eine Flucht einzusetzen?
Der Gedanke, dass sie sich womöglich gerade in dem Haus befand, das ich aus meinem sicheren Versteck beobachtete, ließ meine Brust enger werden. Wie sollte ich denn herausfinden, ob sie dort war? Ich konnte mich dem Haus kaum weiter nähern, ohne entdeckt zu werden. Das Haus stand frei, umgeben nur von Outbacksand. Sobald ich von dem Hügel herunterkam, war ich den Blicken aus dem Haus schutzlos ausgeliefert. Wenn jemand durch das Fenster sah, konnte er mich sehen.
Verzweifelt wog ich meine Möglichkeiten ab und entschied mich für die sicherste Alternative: warten. Ich würde in meinem Versteck bleiben, bis ich Leonie entdeckte. Mich unnötig in Gefahr zu bringen, indem ich mich dem Haus näherte, half meiner Schwester überhaupt nicht.
Ich nahm meine Kamera zur Hand und zoomte auf die Fenster des Hauses. Vielleicht konnte ich Leonie ja durch die Fensterscheiben hindurch im Haus finden? Konzentriert starrte ich auf das Display und schwenkte meine Kamera weiter.
Plötzlich zuckte ich zusammen. Ich hatte aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen.
Meine Kamera fiel zu Boden und ich ließ meinen Blick zu dem Punkt wandern, an dem sich etwas bewegt hatte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich erstarrte.
Es war die Tür. Jemand öffnete von innen die Tür!
War es John Miller oder würde Leonie gleich vor meinen Augen auftauchen?
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Das Foto - Entzweit
Mystery / ThrillerZehn Jahre, nachdem ihre Zwillingsschwester Leonie direkt vor den Augen der gehörlosen Luisa entführt wurde, reist die inzwischen 20-Jährige alleine nach Australien, um sich damit einen Traum zu erfüllen und das Trauma zu überwinden, das sie seit da...