15 Weitere Einblicke

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„Ich habe dir ja schon erzählt, dass wir direkt ins Outback aufbrachen, nachdem wir Australien erreicht hatten. Das alles war für mich schwer zu verarbeiten und ich hatte hart damit zu kämpfen. Es war nicht leicht, in einem fremden Land anzukommen und zu wissen, dass ich meine Heimat und meine Familie vermutlich nie wieder sehen würde. Auf der Farm angekommen, durfte ich das Haus nicht verlassen. Die Kette, die du gesehen hast, war länger und reichte für die meisten Räume im Haus aus."

Ich konnte nicht fassen, was ich hörte. Leonie war zu dem Zeitpunkt gerade mal zwölf Jahre alt gewesen. Wie hatte sie das überstanden? Wie lange war sie wie ein Tier angekettet gewesen? Wie lange hatte sie das Haus nicht verlassen dürfen?

„Als ich ein wenig älter war und Jonathan mir zugetraut hat, meine eigene Lage zu begreifen – was ich schon längst getan hatte – hat er mir erklärt, wie wenig Sinn es ergab, mitten im Outback eine Flucht zu versuchen. Er hat mir mehr als deutlich gemacht, dass ich in wenigen Tagen verdursten und sterben würde. Als hätte ich das nicht selbst gewusst. Ich wusste, wie aussichtslos meine Lage war und dass ich dich und Mama und Papa niemals wiedersehen würde. Mir war klar, dass ich die Farm niemals würde verlassen können, solange er es nicht wollte. Eine Flucht war ausgeschlossen und er hat mir weiterhin damit gedroht, dass er dir Schaden zufügen konnte, wenn ich irgendetwas Dummes tat. Wir waren zwar nicht mehr in Deutschland, aber sein Freund war selbstverständlich noch immer dort."

Ihre Worte ließen meine Brust enger werden. Sie war dem Outback und ihrem Entführer all die Jahre hilflos ausgeliefert gewesen.

Nachdem Jonathan ihr die Ausweglosigkeit ihrer Lage verdeutlicht hatte, durfte Leonie sich frei auf der Farm bewegen, musste jedoch stets in Hörweite bleiben, um sofort zur Stelle zu sein, wenn Jonathan etwas brauchte.

„Ich habe mich dann oft hinter einer der Scheunen versteckt und mir vorgestellt, dass du da wärst. Dann habe ich mich mit dir unterhalten und gebärdet, still, ohne dass je jemand etwas mitbekommen hat."

Ihre Worte erwärmten mein Herz, erfüllten mich jedoch zugleich mit tiefer Traurigkeit. Zehn Jahre lang hatte sie sich nur vorstellen können, mit einem freundlichen Menschen zu sprechen. Es war nie Realität geworden.

Erst als Jonathan Leonie genügend vertraute, nahm er sie auch zum Einkaufen mit. Damit hatte ihr Leben wieder ein wenig an Lebensqualität gewonnen, weil sie hin und wieder unter Menschen kam. Unter normale Menschen. Die Zivilisation sehen konnte. Etwas vom Leben mitbekam. Allerdings hatte sie jedes Mal schmerzhaft gespürt, dass sie nicht Teil dieses Lebens war.

„Ich war mir sicher gewesen, dass ich niemals wieder ein normales Leben führen würde, so wie die Menschen, denen wir beim Einkaufen begegneten. Es war hart, so gut es auch jedes Mal getan hat, ein wenig Normalität zu erleben."

Ich nickte, auch wenn ich mir nicht annähernd ausmalen konnte, wie das für Leonie gewesen sein musste. Ein Leben in Gefangenschaft, regiert von einem einzigen Mann, der jeden Schritt bestimmen konnte. Zehn Jahre, ohne nein sagen zu können, ohne einen eigenen Willen und ohne Erfüllung der eigenen Bedürfnisse. Es war grausam.

Als Leonie ihre Hände wieder hob, um weiter zu gebärden, wurde ich plötzlich von einer neuen, intensiven Schmerzwelle überrollt. Gequält kniff ich die Augen zu und atmete heftig. Ich wusste beim besten Willen nicht, wie lange ich das noch ertragen würde. Der Schmerz raubte mir die Sinne und ich spürte, wie ich in die Bewusstlosigkeit abdriftete.

Sofort spürte ich Leonies Hände in meinem Gesicht. Ich blinzelte und versuchte mein Bestes, meine Augen wieder aufzureißen.

„Bleib bei mir, Luisa. Bitte bleib bei mir. Du darfst mich jetzt nicht alleine lassen."

Ich keuchte und unterdrückte die Tränen. Ich konnte nicht mehr, hatte keine Kraft. Aber das wollte ich Leonie nicht zeigen. Sie sollte nicht wissen, wie es um mich stand.

Das Foto - EntzweitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt