20 Atmen

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Etwas schien meinen Brustkorb zu zerbersten und ich schnappte keuchend nach Luft. Ich blinzelte, erkannte nichts. Schloss wieder die Augen. Spürte eine Berührung. Und eine weitere. Etwas war in meinem Gesicht. Noch einmal öffnete ich die Augen. Zerfressene Schemen und flimmernde Lichter umgaben mich. Ich fühlte mich losgelöst von Raum und Zeit. Dem, was ich sah, konnte ich keine Bedeutung geben.

Meine Augenlider bewegten sich, fielen einen Moment zu, öffneten sich wieder. Wer berührte mich denn da ständig? Und was waren das für brummende Schmerzen überall in meiner Brust? Gesichter schwebten über mir. Lichter von irgendwoher. Und noch mehr Umrisse.

Dann endlich fand ich einen Anker in dem Chaos, etwas, das ich mit meinen verschwommenen Augen fixierte. Neben mir saß ein Engel. Es war Leonie. Meine über alles geliebte, verlorene Zwillingsschwester. Dass ich halluzinierte, störte mich nicht. Sie war da, alles andere hatte keine Bedeutung. Die anderen Umrisse, die Gesichter, die Lichter. Alles verschwand.

Leonies Hände bewegten sich im wirren Lichtschein. Ihr Gesicht war tränennass.

„Gott sei Dank, Luisa. Du bist wieder da. Bitte bleib bei mir. Mach weiter so, du machst das gut. Einfach atmen."

Wo war ich denn gewesen? Sie war es doch, die seit zehn Jahren vermisst wurde.

Ich wollte sie fragen, doch meine Hände wollten nicht so wie ich. Die linke fühlte sich steif an, die rechte wurde von irgendjemandem festgehalten. Verwirrt sah ich an mir herunter.

Und mit einem Schlag fiel mir alles wieder ein.

Leonie war keine Halluzination! Sie war echt! Sie saß neben mir!

Waren.... waren das Sanitäter? Ärzte? Polizisten? Oder war es das Drogenkartell? Nein, das ergab keinen Sinn. Ungläubig sah ich zurück zu Leonie.

„Einfach weiter atmen", gebärdete sie wieder. Tränen liefen über ihr blutiges Gesicht.

War ich... war ich gestorben? War das der Schmerz in meiner Brust? Hatte man mich wiederbeleben müssen?

Jemand wollte Leonie von mir wegziehen, wollte sich ihre Kopfwunde ansehen, doch sie stieß jeden von sich. Ich sah Panik und Verzweiflung in ihrem Blick. Sie ließ sich von niemandem anfassen, wollte nur bei mir bleiben.

Inzwischen hatte ich verstanden, dass meine Hand festgehalten worden war, weil man mir einen Zugang gelegt hatte. Das Ding in meinem Gesicht war eine Sauerstoffmaske. Die vielen Hände an meinem Körper waren von Rettungskräften.

Hatte ich tatsächlich überlebt? Wie hatte man uns gefunden? Wie lange war ich bewusstlos gewesen? Wie lange tot? Wie viel Zeit war vergangen, seit ich die Augen geschlossen hatte? Was war mit dem Drogenkartell?

Wieder stieß Leonie jemanden von sich.

Ich hob meine inzwischen freie rechte Hand.

„Leonie, lass dir helfen", gebärdete ich schwach.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich bewege mich keinen Millimeter von dir weg. Nie wieder. Ich kann dich jetzt nicht alleine lassen."

„Du... lässt mich... nicht alleine. Du bist doch... noch in der Nähe."

„Ich muss für dich dolmetschen. Du bekommst ja gar nicht mit, dass sie die ganze Zeit mit dir reden."

„Mir ist... egal, was sie sagen. Lass dir helfen."

Doch es hatte keinen Zweck. Leonie wich nicht von meiner Seite, hielt meine rechte Hand fest, bis ich in einen Hubschrauber gebracht wurde. Noch immer sah ich nur verschwommen, die Lichter blendeten mich und ich kniff jedes Mal die Augen zu, wenn mir eines zu nahe kam. Im Hubschrauber hielt ich das Licht kaum aus. Leonie stieg mit mir ein und ließ meine Hand nicht los. Ich erkannte, dass die Rettungskräfte alles versuchten, doch sie ließ mich nicht los. Tränen strömten über ihre Wangen. Ich konnte mir nicht annähernd vorstellen, was in ihr vorging.

Bald würden wir abheben. Bald würde sie das Outback verlassen. Und damit zehn Jahre Gefangenschaft.

Leonies Hand zitterte, als die Türen geschlossen wurden.

„Ich bin da", gebärdete ich mit meiner geschienten linken Hand.

Leonie schien schwer um Fassung zu ringen. Ich wollte sie umarmen, wollte jetzt noch viel mehr für sie da sein, aber ich konnte nicht. Ich war auf der Liege festgeschnallt, meine rechte Brust dick mit Verband umhüllt. Ich konnte mich kaum bewegen.

Als wir in der Luft waren, wurden meine Augenlider immer schwerer. Ich versuchte, wach zu bleiben, versuchte, Leonie nicht im Stich zu lassen, doch es dauerte nicht lange, da hatte ich meinen Kampf verloren.


Das Foto - EntzweitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt