Prolog

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Leonie winkte mir fröhlich von draußen zu. Ich winkte zurück und vertiefte mich wieder in meine Hausaufgaben. Die musste ich zuerst fertig machen, bevor ich zu ihr in den Garten gehen konnte. Bei mir dauerten die Hausaufgaben immer viel länger als bei meiner Zwillingsschwester. Ich verstand viele Wörter nicht, weil ich erst seit der ersten Klasse die deutsche Sprache lernte. Mühsam hatte ich mit Lernwörtern und passenden Bildern Wort für Wort gelernt. Als dann Begriffe kamen, für die es keine Bilder gab und die ich aus der Gebärdensprache gar nicht kannte, war es sehr schwierig für mich geworden. Was war denn bitte doch für ein Wort? Und warum gab es deshalb, darum und deswegen? Leonie hatte mir erklärt, dass das alles dasselbe bedeutete, deshalb gab es auch nur eine Gebärde dafür. Aber wie sollte ich mir das denn alles merken?

Leonie unterstützte mich oft bei den Hausaufgaben, weil ich auch mit meinen zehn Jahren noch unbekannten Wörtern in den Texten begegnete, die ich für die Schule lesen musste. Aber heute hatte sie keine Lust darauf, also war ich auf mich allein gestellt. Das war okay für mich, denn ich wollte nicht, dass meine Schwester nur meinetwegen weniger Freizeit hatte. Sie musste so schon oft genug für mich dolmetschen, wenn wir beispielsweise auf dem Spielplatz waren und die anderen Kinder mich nicht verstanden. Leonie sagte zwar immer, dass ihr das nichts ausmachte, aber ich wollte lieber, dass die anderen Kinder die Gebärdensprache lernten. Dann brauchte ich niemanden, der für mich dolmetschte.

Ich beantwortete die letzte Frage zu dem Text, den ich lesen musste, und setzte einen Punkt. Strahlend hob ich den Kopf. Ich klappte mein Deutschheft zu, packte das und mein Mäppchen zurück in den Schulranzen und stand auf. Fröhlich gebärdete ich Leonie durch die Terrassentür, dass ich gleich kommen würde. Ich musste nur noch schnell meine Schuhe anziehen. Sie nickte.

Ausgestattet mit Sandalen, Federballschlägern und einem Federball ging ich nach draußen.

„Hast du Lust?"

Leonie nickte und nahm die Kopfhörer aus den Ohren. Sie war die einzige in unserer Familie, die hören konnte. Meine Eltern waren wie ich gehörlos. Manchmal versuchte Leonie mir zu beschreiben, wie die Musik sich anhörte, die sie durch ihre Kopfhörer hörte. Ich stellte es mir schön vor. Leonie versuchte stattdessen immer wieder, mit Ohropax und Kopfhörern ihr Gehör auszuschalten, um die Stille zu erleben, in der unsere Eltern und ich lebten. Sie genoss es, wenn es so still war. Für mich war das normal. Wenn draußen irgendein Lärm war und Leonie die Fenster schloss, um sich bei den Hausaufgaben besser konzentrieren zu können, sah ich jedes Mal überrascht auf. Ich konnte mich eigentlich immer konzentrieren.

Wir spielten, bis wir vollkommen außer Atem waren. Lachend legten wir uns ins Gras. Leonie stupste mich von der Seite an, sodass ich sie ansah.

„Tobi hat mich heute zu seinem Geburtstag eingeladen. Die Feier ist am Wochenende. Er hat gefragt, ob du mitkommen möchtest."

Wir gingen nicht in dieselbe Klasse. Auch nicht in dieselbe Schule, denn ich besuchte eine Schule für hörgeschädigte Kinder. Dennoch kannte ich die meisten von Leonies Freunden, weil sie hier im Dorf wohnten und wir uns oft trafen. Einige konnten sogar ein bisschen gebärden.

Lächelnd nickte ich. Warum nicht? Das würde bestimmt lustig werden.

Während wir uns kichernd unterhielten – wir konnten einfach nie ernst bleiben, es gab immer irgendetwas zum Lachen – bemerkte ich, welchen großen Durst ich hatte. Ich hatte mich beim Federballspielen ganz schön verausgabt.

„Ich geh kurz rein, was trinken. Soll ich dir ein Glas mitbringen?", fragte ich.

Leonie nickte. Ich sprang auf und rannte in die Wohnung zur Küche. Mama stand am Herd, sie kochte das Abendessen. Mit zwei vollen Gläsern ging ich zurück ins Wohnzimmer zur Terrassentür. Auf halbem Weg blieb ich wie erstarrt stehen.

Da war ein Mann bei Leonie! Er trug eine Maske und hatte beide Arme um meine Schwester gelegt.

Die Gläser rutschten mir aus der Hand. Mein Herz schlug plötzlich viel zu heftig gegen meine Brust.

„Hilf mir, Luisa!", gebärdete Leonie. Der Mann hielt ihr zwar den Mund zu und die Oberarme fest, aber ihre Hände waren frei.

Panisch schrie ich nach Mama. Laute verließen meinen Mund, während ich auf die geschlossene Terrassentür zu rannte. Mama hörte mich nicht. Natürlich nicht. Der Mann zog meine Schwester nun mit sich. Ich riss die Tür auf, fühlte mich wie ferngesteuert. Mein Verstand hatte ausgesetzt, Panik hatte meinen Körper übernommen. Tränen strömten über meine Wangen und ich zitterte. Als ich die Terrasse betrat, war der Mann mit Leonie bereits aus dem Garten verschwunden.

Nein! Bleib hier!

Noch immer schrie ich.

Leonie!

Verzweifelt rannte ich dem Mann hinterher. Ich nahm inzwischen nichts anderes mehr wahr, die Welt um mich herum war verschwunden. Als ich das Gartentor erreicht hatte, knickten meine Knie unter mir weg und ich konnte mich nur mit letzter Kraft aufrecht halten. Der Mann zog Leonie in ein Auto. Bevor ich eingreifen oder überhaupt irgendetwas tun konnte, schloss er die Türen und gab Gas. Ich kreischte, fühlte, wie mein Herz zerbrach. So schnell ich konnte, rannte ich dem Auto hinterher und schrie in der Hoffnung, dass irgendjemand mich hörte. Verzweifelt versuchte ich das Wort Hilfe zu formen, doch ich wusste nicht, welche Klänge meine Lippen verließen. Als jemand auf mich zukam, um zu fragen, was los war, hatte ich das Auto bereits aus den Augen verloren.

Leonie!

Sie war weg! Der Mann hatte mir meine Schwester weggenommen!

Nein! Nein, nein!

Meine Brust verkrampfte sich so sehr, dass ich keine Luft mehr bekam. Weinend brach ich am Boden zusammen. Ich stand unter Schock. Konnte nicht begreifen, was passiert war. Bis ich schwer zitternd erklärt hatte, was geschehen war, war meine Schwester für immer verschwunden.

Leonie, komm zurück!


Das Foto - EntzweitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt