13 Abgebrannt

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Das Bild, das sich Trevor bot, war verheerend. Als er heute Morgen diesen ominösen Brief auf seinem Schreibtisch entdeckt hatte, hatte er nicht für möglich gehalten, wie sich der Tag noch entwickeln würde.

Zwei vermisste Mädchen. Eine vollständig abgebrannte Farm mitten im Outback und ein ebenso ausgebranntes Auto auf der Straße, das vermutlich Luisas Mietwagen gewesen war.

Was hatte sich hier nur abgespielt? Und wo waren die Mädchen und ihr Entführer? Luisas Handy war aufgetaucht, begraben unter Sand, versteckt hinter einem Busch. Von dieser Position aus musste sie das Video gefilmt haben, der Winkel passte. Doch von Luisa selbst fehlte jede Spur, ebenso wie von Leonie und dem Mann, der sie mutmaßlich vor zehn Jahren entführt hatte.

Während die Feuerwehr noch darum kämpfte, die letzten Brandherde zu löschen, sodass die Polizei mit den Ermittlungen auf der Farm beginnen konnte, waren bereits alle Flughäfen und Bahnhöfe informiert worden, Bilder von Jonathan Müller und den Zwillingen waren überall in Umlauf gebracht worden. Straßensperren waren eingerichtet. Alle größeren Zugangsstraßen der umliegenden Städte waren gesperrt. Wenn Jonathan Müller irgendwo dort auftauchte, war seine Flucht vorbei. Aber würde er dort auftauchen? Oder waren sie nicht schon viel zu spät dran? Dem Zustand der Farm nach zu urteilen hatte Jonathan Müller mehrere Stunden Vorsprung. Von seiner Farm war nichts mehr übrig, alles war vollständig abgebrannt. Er konnte in jede Himmelsrichtung geflohen sein und war vermutlich schon mehrere hundert Kilometer entfernt. Vielleicht hatte er sich bereits irgendwo versteckt oder er hatte sogar Zugang zu einem Privatflugzeug gehabt. Dann war jede Hoffnung, ihn über die offiziellen Kanäle zu finden, verloren.

Trevor dachte an den Morgen zurück, als er das Foto einer unbekannten jungen Frau aus einem Umschlag gezogen hatte mit der Bitte, nach ihr zu suchen. Der Briefumschlag war ohne Absender gewesen und zunächst gründlich untersucht worden, bevor er zur weiteren Einschätzung auf seinem Schreibtisch gelandet war. Normalerweise war Brad dafür zuständig, solche Post zu öffnen, aber er war seit einer Woche krankgeschrieben.

Trevor hatte darüber nachgedacht, der Sache zumindest nachzugehen. Er hatte nach dem Namen der jungen Frau gegoogelt und herausgefunden, dass die Angaben stimmten. Dass sie tatsächlich vor zehn Jahren in Deutschland verschwunden war und seither jede Spur von ihr fehlte. Ob das Foto, das er in der Hand hielt, allerdings tatsächlich die zehn Jahre ältere Leonie Hauser zeigte, konnte Trevor nicht sagen. Dennoch hatte er gerade zum Coles aufbrechen wollen, um sich dort, wo das Foto aufgenommen worden war, einmal umzusehen. Dann war er jedoch zu einer Schlägerei und anschließend zu einem Verkehrsunfall gerufen worden. So war das Foto immer mehr in den Hintergrund gerückt und er war erst wieder dazu gekommen, sich darum zu kümmern, als der Anruf der deutschen Kollegen gekommen war.

Noch nie war Trevor Teil eines solch großen Falls gewesen. Es war sein fünftes Jahr, seit er die Polizeiakademie abgeschlossen hatte und bisher waren seine Einsätze meist unbedeutend gewesen. Das hier war eine ganz neue Größenordnung. Es war seit Jahren die aufsehenerregendste Großfahndung in Australien. Und er war nur Teil davon, weil sie in Alice Springs momentan so knapp besetzt waren. Aber er war dafür doppelt so motiviert wie alle seine Kollegen, Leonie und Luisa zu finden. Der Brief war heute Morgen auf seinem Schreibtisch gelandet, deshalb fühlte er sich in besonderer Weise verantwortlich. Das Video, das Luisa schließlich an ihre Eltern geschickt hatte, geisterte noch immer durch seine Gedanken. Er hatte kein Wort von dem verstanden, was Leonie gebärdet hatte, aber die Übersetzung hatte ihn schockiert.

Er war sich sicher, dass den beiden etwas zugestoßen war. Jonathan Müller hatte sie mitgenommen. Er glaubte nicht wie manche seiner Kollegen, dass er die Zwillinge mitsamt der Farm zu Asche verbrannt hatte, um alle Beweise und Zeugen zu vernichten. Warum hätte er Leonie zehn Jahre lang behalten sollen, ohne je eine Lösegeldforderung zu stellen, nur um sie jetzt zu töten? Nein, Leonies Entführung hatte eine tiefere Bedeutung und Trevor war sich sicher, dass Jonathan Müller sie jetzt nicht einfach töten würde. Die deutschen Kollegen prüften gerade eine Verbindung zwischen Müller und der Mutter der beiden Mädchen und Trevor war sehr gespannt, was dabei herauskam. Wieso hatte Leonie zehn Jahre lang leiden müssen, ohne dass jemals jemand erfahren hatte, dass sie noch lebte? Ohne dass er jemals irgendwelche Forderungen gestellt hatte? Was war das Motiv dahinter?

Doch das war nicht Trevors Baustelle. Er war hier vor Ort, wo er mehr tun konnte, als nur die Hintergründe zu ermitteln. Er konnte dazu beitragen, Leonie und Luisa zu finden. Voller Tatendrang nahm er sich vor, die Landkarte zu studieren und alle möglichen Fluchtwege noch einmal genau durchzugehen. Das hatten die Kollegen von der Einsatztruppe selbstverständlich längst getan, die, die mehr zu sagen hatten als er. Aber es schadete ja nicht, noch einmal einen Blick darauf zu werfen. Hier draußen war alles so weitläufig, dass es der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen glich. Wo könnte Jonathan Müller hingefahren sein? Wo könnte er sich verstecken? Vielleicht fiel Trevor irgendetwas auf, was zuvor niemandem aufgefallen war?

Natürlich wusste er, dass das ziemlich unwahrscheinlich war, aber er war jung und voller naiver Hoffnung. Leonie Hauser war zehn Jahre lang wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Nun war sie endlich wieder aufgetaucht. Sie durften die Chance, sie zu finden, nicht verstreichen lassen, ehe sie womöglich für weitere zehn Jahre verschwand – und mit ihr ihre Zwillingsschwester Luisa. Diejenige, die keine Gefahren gescheut hatte, um ihre Schwester aufzuspüren. Sie mussten die beiden finden, bevor eine von ihnen oder beide zu Schaden kamen. Bevor womöglich jede Rettung zu spät kam.

Leonie sollte endlich wieder mit ihrer Familie vereint und Luisa für ihren Mut belohnt werden.

Trevor hoffte zutiefst, dass sie nicht bereits zu spät waren und Jonathan nicht wieder wie vom Erdboden verschluckt war.


Das Foto - EntzweitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt