Schluchzend kauerte ich auf dem Boden. Die Welt um mich herum hörte auf, zu existieren. Alles, woran ich denken konnte, war mein Versagen und das unstillbare Verlangen, Leonie endlich nahe zu sein. Was passierte nur da draußen vor der Tür? Es machte mich verrückt, dass ich nicht hören konnte, was sie machten oder worüber sie sprachen. Ging es Leonie gut? Wie sollte es jetzt weitergehen? Wie lange würde ich in diesem Zimmer ausharren müssen?
Mit tränenverschwommener Sicht sah ich mich noch einmal um. Ich rutschte näher zum Bett, um die Bettwäsche zu berühren. Vorsichtig steckte ich meine Nase hinein. Ein weiteres Schluchzen erschütterte meinen Körper, als ich Leonies Geruch wahrzunehmen glaubte. Vermutlich war es Einbildung, aber ich sehnte mich einfach so sehr nach ihr.
Wie oft war Leonie wohl hier eingesperrt? Wie viel Zeit verbrachte sie in diesem Zimmer, angekettet an den Boden? Die Kette war gerade lange genug, um mit ihr durchs Zimmer zu gehen, wobei es bei den Ecken schon schwierig wurde.
Kettete John Miller Leonie jede Nacht an? Ihre wunden Fußgelenke schienen dafür zu sprechen. Vermutlich war sie auch hier im Zimmer, wenn er etwas außer Haus zu erledigen hatte. So konnte er sich sicher sein, dass sie nichts anstellte, während er weg war. Die Gedanken und tausenden Fragen quälten mich. Wimmernd lehnte ich am Bett. Warum hatte John Miller uns nicht zusammen hier eingesperrt? Dann könnten wir uns unterhalten. Der Wunsch, mich mit Leonie auszutauschen, ihr Trost zu spenden und nach so vielen Jahren endlich für sie da zu sein, war übermächtig. Ich wollte ihr von unseren Eltern erzählen, davon, wie sehr sie sie vermissten. Wie wir jedes Jahr an unserem Geburtstag feierten und zugleich trauerten. Wir zündeten dann jedes Mal eine Kerze für sie an und ich hatte mir immer vorgestellt, wie sie ein Licht in Leonies Herz aufgehen ließ. Ein bisschen Wärme, die sie spüren ließ, dass sie nicht alleine war. Dass wir da waren und auf sie warteten. Dass wir sie liebten.
Ich wollte ihr all das so unbedingt erzählen. Doch das schien unerreichbar, obwohl wir uns so nahe waren wie seit zehn Jahren nicht mehr. Ich konnte noch immer nicht fassen, dass es mir gelungen war, sie zu finden. Die Polizei war jahrelang im Dunkeln getappt, hatte seit Ewigkeiten keine Spuren mehr, denen man nachgehen konnte und Leonie insgeheim schon längst für tot erklärt. Doch das war sie nicht. Und ich, ausgerechnet ich, hatte den Beweis geliefert. Nicht die Polizei, die dafür ausgebildet war, sondern ich. Vielleicht hatte Leonie mich doch hierhergeführt. Vielleicht war es doch unsere enge Bindung, die die Sehnsucht nach Australien in mir ausgelöst hatte. Aber ganz egal, aus welchem Grund ich hier war, Hauptsache ich hatte sie gefunden! Nun befand ich mich im selben Haus, nur wenige Meter von ihr entfernt. Ich konnte es kaum glauben, auch wenn mir selbst diese Distanz noch viel zu weit erschien. Ich wollte sie endlich im Arm halten, ihre Nähe spüren und ihr so viel erzählen.
Da fielen mir plötzlich die Fotos wieder ein. Irgendjemand war mir über all die Jahre nahe gewesen. Viel zu nah. Wer hatte die Fotos aufgenommen? Wusste Leonie womöglich viel mehr über die letzten zehn Jahre als ich geglaubt hatte? Hatte jemand sie auf dem Laufenden gehalten? Aber wer?
Zumindest erklärte das, warum Leonie nicht floh, wenn John Miller sie zum Einkaufen mitnahm. Ich hatte mich darüber gewundert, hatte nicht verstanden, wie das möglich war. Warum rief sie nicht um Hilfe, wenn sie in der Öffentlichkeit war? Inmitten eines Supermarktes hätte ihr Entführer keine Chance, sie unbemerkt wieder mitzunehmen, wenn sie sich wehrte.
Sie hatte es meinetwegen getan. Meinetwegen war sie nie geflohen. Meinetwegen tat sie alles, was von ihr verlangt wurde. Um mich zu beschützen. Weil sie regelmäßig mit Fotos von mir versorgt wurde, die ihr verdeutlichten, was auf dem Spiel stand. Es war grausam. Unfassbar grausam. Wie sehr musste sie in den letzten zehn Jahren gelitten haben? Was hatte der Mann alles von ihr verlangt? Was hatte sie für ihn tun müssen?
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Das Foto - Entzweit
Mystery / ThrillerZehn Jahre, nachdem ihre Zwillingsschwester Leonie direkt vor den Augen der gehörlosen Luisa entführt wurde, reist die inzwischen 20-Jährige alleine nach Australien, um sich damit einen Traum zu erfüllen und das Trauma zu überwinden, das sie seit da...