14 Überlebenskampf

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Jemand zog mich über den Boden. Dann war ich wieder weg. Wieder das Gefühl, ruckhaft weitergezogen zu werden. Augenblicke, Momente, Sekunden. Schwärze und gleißendes Licht. Ein vor Anstrengung und Verzweiflung verzerrtes Gesicht tauchte immer wieder über mir auf. Dann war wieder alles schwarz.

Als ich das nächste Mal zu mir kam, lag ich im Schatten. Jemand tätschelte mir auf die Wange und ich spürte einen schmerzhaften Druck auf meiner rechten Brust. Stöhnend atmete ich auf und sah zu dem schrecklichen Schmerz hinunter. Eine Hand war auf meine Brust gepresst, knapp unterhalb der Schulter, und Blut quoll darunter hervor. Ich ließ meinen Blick an der Hand vorbei den Arm weiter hinauf gleiten, bis meine Augen das Gesicht erblickten, das zu dem Arm gehörte.

Dann fiel mir schlagartig wieder ein, was passiert war.

Ich hatte mir für Leonie eine Kugel eingefangen. Hatte ich das ernsthaft überlebt? Lebte ich noch oder war das alles nur ein Traum, während ich im Sterben lag?

Tränen tropften von Leonies Gesicht auf meines und ich keuchte schwer. Von Sekunde zu Sekunde nahm der Schmerz zu, bis er alle meine Sinne betäubte. Da war nur noch endloser, sich durch meinen ganzen Körper fressender Schmerz.

„Es tut mir leid. Es tut mir so leid. So, so leid!", gebärdete Leonie wieder und wieder, während sie heftig schluchzte.

Gequält hob ich meine rechte Hand. „Es ist alles okay, Leonie. Es ist nicht deine Schuld."

„Ich hätte ihm niemals ins Lenkrad greifen sollen. Warum habe ich das getan? Es war so dumm von mir. So dumm! Du bist gekommen, um mich zu retten und ich habe leichtsinnig unsere beiden Leben gefährdet."

„Nein, das hast du nicht", widersprach ich ihr. „Du hast getan, was du tun musstest. Ich verstehe, warum du es getan hast."

Leonie schüttelte verzweifelt den Kopf.

„Wir werden das schaffen, Leonie. Wir... Du wirst überleben. Du wirst zu unseren Eltern heimkehren und sie unendlich glücklich machen."

„Ich muss das Handy holen", gebärdete Leonie plötzlich mit vor Entsetzen erstarrtem Gesicht. „Ich muss Hilfe rufen."

„Nein", entgegnete ich vehement, auch wenn jede Bewegung schrecklich schmerzhaft war. „Wenn du zurückgehst, erschießt er dich. Du bleibst hier in Sicherheit. Lieber sterbe ich und ermögliche dir, endlich zu leben, als dass auch du stirbst. Du hast genug gelitten, Leonie."

Ein heftiges Schluchzen erschütterte Leonies Körper und ich sah, wie ihre Lippen sich bewegten. Sie sprach mit sich selbst, wusste nicht, was sie tun sollte, konnte nicht zulassen, dass ich starb. Vielleicht war es ja auch gar nicht so schlimm? Vielleicht war meine Verletzung gar nicht lebensbedrohlich? Doch inmitten des Outbacks, weit entfernt von jeglicher Hilfe, gab es kaum Grund zur Hoffnung. Selbst wenn die Schusswunde zunächst nicht lebensbedrohlich sein mochte, wir konnten sie nicht behandeln. Allein der Blutverlust würde mich irgendwann das Leben kosten. Ich hatte nicht nur einen Streifschuss abbekommen. Die Kugel hatte mich voll getroffen. Womöglich hatte sie sogar meinen rechten Lungenflügel gestreift oder durchlöchert. Ich befürchtete, dass mein Todesurteil bereits unterschrieben war. Insgeheim ahnten wir es beide, auch wenn es keine von uns wirklich wahrhaben wollte.

„Ich muss doch irgendetwas tun können! Ich kann dich nicht einfach sterben lassen! Ich habe dich doch gerade erst wieder bekommen."

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Mir ging es genauso und es brach mir das Herz. Ich konnte mir nicht vorstellen, sie schon wieder zu verlieren. Aber die Vorstellung, dass vielleicht wenigstens sie zu unseren Eltern zurückkehren würde, tröstete mich. Leonie konnte hier draußen einige Tage überleben. Im Auto gab es bestimmt irgendwo Wasser. Sie konnte sich versorgen und Wasser und Proviant einteilen, bis irgendwelche Suchmannschaften sie finden würden. Das Video musste meine Eltern einfach erreicht haben. Vielleicht war ja bereits jemand auf der Suche nach uns?

Das Foto - EntzweitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt