12 Chaos

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Als sich der Bus überschlug, grub sich die Handschelle immer tiefer in meine Haut. Glücklicherweise hatte ich mich angeschnallt, kurz nachdem wir die Farm verlassen hatten. Andernfalls würde ich wie ein Gummiball in dem Fahrzeug hin und her geworfen werden, alleine festgehalten durch eine eiserne Handschelle.

Was um mich herum geschah, nahm ich nicht wahr. Ob Leonie noch auf ihrem Sitz war oder aus dem Auto geschleudert worden war, sah ich nicht. Auch Jonathan beachtete ich nicht. Ich stand unter Schock, spürte nur, wie mein Körper den Kräften des umherwirbelnden VW-Busses ausgeliefert war.

Bis wir endlich zum Stillstand kamen.

Einige Sekunden oder Minuten passierte nichts. Die Welt war schwarz, Raum und Zeit hatten aufgehört zu existieren. Ich hing in meinem Gurt und spürte, dass etwas nicht stimmte. Erst, als mich etwas berührte, schlug ich erschrocken die Augen auf. Orientierungslos flog mein Blick durch die Gegend. Ohne Ziel, ohne Verstand.

Wieder eine Berührung an meiner Schulter. Ich zwang meine Augen, in die Richtung zu sehen und blickte in ein blutüberströmtes Gesicht. Der Winkel wunderte mich und ich konnte dem im Moment auch keinen Sinn geben. War das mein Gesicht? Sah ich in einen Spiegel?

Erst, als sich vor dem Gesicht Hände bewegten, die mit mir sprachen, klarten meine Gedanken auf. Das war Leonie! Adrenalin überschwemmte meinen Körper, als ich begriff, was passiert war. Schlagartig nahm ich alles zugleich wahr. Der VW-Bus war auf der rechten Seite liegengeblieben und ich hing in der Luft, gerade noch so in den Gurten! Leonie stand gebeugt unter mir, daher der seltsame Winkel. Und sie streckte mir etwas entgegen. Das war es, was sie mir gerade zu erklären versucht hatte. Es war der Schlüssel zu meinen Handschellen und sie wollte, dass ich mich selbst befreite, weil sie mir nicht wehtun wollte.

„Schnell!", gebärdete sie.

Ich warf einen panischen Blick zu Jonathan. Wo war er? War er am Leben? Würde er uns jeden Moment stoppen?

Während Leonie mir den Schlüssel in die Hand drückte, entdeckte ich Jonathans Körper im Fahrersitz. War er bewusstlos oder tot? Momentan war mir das ehrlich gesagt egal, Hauptsache, er konnte uns nicht aufhalten.

Mit zitternden Fingern öffnete ich die Handschelle um mein blutendes, linkes Handgelenk.

„Auch die andere Seite! Wir brauchen sie für Jonathan", gebärdete Leonie.

Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, was sie von mir wollte. Ich sollte die Handschelle von dem Haltegriff lösen. Jonathan war offensichtlich nicht tot und Leonie wollte verhindern, dass er uns schaden konnte, sobald er wieder zu sich kam.

Mein Herz raste, mein Verstand war noch immer leicht benebelt. Dennoch kam ich Leonies Wunsch nach. Ich gab ihr die Handschelle und sie kletterte zu ihrem Entführer vor. Während sie mit ihm beschäftigt war, öffnete ich besinnungslos meinen Gurt und fiel unkontrolliert nach unten. Leonie sah schockiert zu mir.

„Ich hätte dir doch geholfen!"

Wie konnte sie nur schon so klar denken? Sie schien die Lage voll im Griff zu haben, während ich mit allem vollkommen überfordert war.

„Komm!"

Leonie winkte mich zu sich. Erst jetzt sah ich, dass die Frontscheibe zerbrochen war. Leonie stemmte sich dagegen, um sie vollends herauszudrücken. Kurz darauf stieg sie über Jonathan hinweg aus dem Wagen und streckte mir ihre Hände entgegen. Umständlich kletterte ich zu ihr. Meine Beine wollten mich nicht tragen, fühlten sich an wie Gummi, doch ich schaffte es mit Leonies Hilfe, das Fahrzeug zu verlassen. Leonie zog mich hinter das Auto in den Schatten, wo sie mich auf den Boden drückte. Dann setzte sie sich zu mir und ehe ich überhaupt Zeit gehabt hatte, mich selbst zu sortieren, fiel sie mir um den Hals. Eng schlang sie ihre Arme um mich und drückte mich so fest, dass mir trotz der grausamen Situation das Herz aufging. Endlich konnten wir uns nahe sein! Ein Traum, der in Erfüllung ging. Ich wünschte mir, dass sie mich nie wieder losließ und schlang meinen rechten Arm um sie. Wir verharrten einen Moment lang so und ich genoss ihre Nähe und die Tatsache, dass ich ihren heftigen Herzschlag an meiner Brust spüren konnte. Tränen stiegen mir in die Augen, als ihr Körper plötzlich und ohne jede Vorwarnung von einem heftigen Beben erschüttert wurde.

Das Foto - EntzweitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt