Wieder und wieder zoomte ich hinein und wieder hinaus. Ich zweifelte an meinem Verstand, zwickte mich in den Arm, um sicher zu sein, dass ich wach war und nicht hinter den Fotos eingeschlafen war. Dass das kein Traum war. Aber ich war wach. Und ich war mir ziemlich sicher, wen ich auf diesem Foto sah.
Meine Welt begann sich zu drehen. Schwindel erfasste mich und ich griff mir taumelnd an die Stirn.
Leonie, bist du das wirklich?
Wir waren keine eineiigen Zwillinge, aber wir hatten uns schon immer sehr ähnlich gesehen. Außerdem würde ich Leonies Gesicht auch in hundert Jahren noch erkennen. Sie war ein Teil von mir, ich kannte jede Faser, jede Pore, jeden feinsten Gesichtszug in- und auswendig. Das war Leonie! Auch wenn sie zehn Jahre älter war, hatte ich, je öfter ich mir das Foto ansah, immer weniger Zweifel daran. Ja, ich hatte Leonie schon oft in irgendwelchen Menschenmengen entdeckt. Jedes Mal hatte ich mich getäuscht und war verwirrt angesehen worden, wenn ich zu ihr rannte und sie umarmte. Aber in diesen Fällen waren es kurze Momente gewesen, in denen ich ein Gesicht in der Menge entdeckt hatte. Und wenn ich sie auf Fotos entdeckt und sie meinen Eltern und der Polizei gezeigt hatte, war ich mir nie zu hundert Prozent sicher gewesen. Aber dieses Mal war es anders. Ich war mir noch nie in den letzten zehn Jahren so sicher gewesen.
Die junge Frau auf dem Bild war Leonie!
Mein Herz pochte immer schneller und ich fühlte mich, als würde die ganze Welt in Lichtgeschwindigkeit an mir vorbeirasen, während ich stehenblieb und zusah. Auf ein Bild starrte, das eine Wahrheit barg, die ich kaum in der Lage war, zu verarbeiten.
Mein Körper zitterte, Tränen benetzten meine Wangen. Wieder zoomte ich das Bild näher heran und verlor mich in ihrem Gesicht. Ihren einst so warmen und fröhlichen Augen, die jeden Schimmer verloren hatten.
Erst Minuten später begannen Fragen auf mich einzuprasseln. Was um alles in der Welt hatte Leonie in Alice Springs zu suchen? Und wieso... wieso hatte sie sich nie gemeldet?
Plötzlich packte mich ein Grauen und ich starrte erneut auf das Bild, das mir nun wie ein Tor in eine finstere Welt vorkam. War Leonie alleine? Oder war ihr Entführer bei ihr?
Hinter Leonie entdeckte ich tatsächlich einen Mann mit Cowboyhut, der jedoch mit dem Rücken zur Kamera stand. Er holte einen Einkaufswagen. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. War das ihr Entführer? Oder war er nur zufällig in der Nähe? Fragen über Fragen stürzten auf mich nieder. Fragen, auf die ich die Antworten nicht kannte. Mir wurde übel und ich atmete flach. Ein Schluchzen entfuhr mir. Schlagartig wurde ich von den Emotionen übermannt, die meine Entdeckung ausgelöst hatte. Ich weinte bitterlich, schrie nach Leonie und verstand einfach nicht, was das alles zu bedeuten hatte.
Ich hatte Leonie gefunden! Nach zehn schmerzhaften, qualvollen Jahren!
Verdammt, was tust du dann noch hier? Du musst sofort zurück, du darfst keine Zeit verlieren! Vielleicht ist sie ja noch dort?
Wie vom Blitz getroffen schoss ich aus dem Bett. Alles um mich herum verschwamm. Torkelnd stolperte ich zu meinem Tagesrucksack, steckte meine Kamera hinein und stürzte aus dem Zimmer. Atemlos rannte ich die drei Stockwerke hinunter und bestellte an der Rezeption ein Taxi. Das alles musste schnell gehen, verdammt!
Ich saß wie auf heißen Kohlen, während sich das Taxi dem Supermarkt näherte.
Bitte sei noch da! Bitte sei noch da!
Tränen standen in meinen Augen und ich hielt den Rucksack auf meinem Schoß fest umklammert. Ich ertrug es kaum noch, zum Stillsitzen gezwungen zu sein. Als wir ankamen, drückte ich dem Taxifahrer einen Fünfzig-Dollar-Schein in die Hand und verschwand, obwohl der Mann mir achtzehn Dollar Rückgeld schuldete. Das war ein großes Trinkgeld, aber das war mir im Moment egal. Alles, was zählte, war Leonie.
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Das Foto - Entzweit
Mystery / ThrillerZehn Jahre, nachdem ihre Zwillingsschwester Leonie direkt vor den Augen der gehörlosen Luisa entführt wurde, reist die inzwischen 20-Jährige alleine nach Australien, um sich damit einen Traum zu erfüllen und das Trauma zu überwinden, das sie seit da...