Susanne stand noch immer unter Schock. Sie hatte gerade ins Bett gehen wollen, als ihr Handy vibriert hatte. Kaum hatte sie Luisas Nachricht erhalten, war sie vor dem Bett zusammengebrochen. Thorsten war besorgt zu ihr gerannt und auch ihm war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen, als er das Video gesehen hatte.
Luisa hatte Leonie gefunden! Wie um alles in der Welt war das möglich, nach so langer Zeit? Susanne hatte so oft darüber nachgedacht, wie es ihrer kleinen Tochter ging und manchmal war die Vorstellung, dass sie bereits tot war, tröstlicher gewesen als die Vorstellung, was sie andernfalls durchmachen musste. Aber sie war am Leben! Daran bestand kein Zweifel. Die junge Frau auf dem Video war ihre über alles geliebte, vor zehn Jahren verschwundene Tochter Leonie. Alleine dass sie gebärden konnte, reichte als Beweis, doch sie sah auch noch genau so aus. Es war Leonie! Susanne konnte es noch immer nicht glauben. Die Bilder spielten sich wie in Dauerschleife vor ihrem inneren Auge ab. Sie hatte ihre Tochter wiedergesehen. Etwas, woran sie seit Jahren nicht mehr geglaubt hatte. Sie hatte schon längst die Hoffnung aufgegeben, Leonie jemals wiederzusehen.
Aber Luisa war es gelungen, sie aufzuspüren und zu filmen. Sie hatte sie gefunden!
Doch was Leonie gesagt hatte, schockierte Susanne zutiefst. Und was sie noch mehr beunruhigte, war, dass sie Luisa seither nicht mehr erreichen konnte. Leonie hatte Luisa gewarnt, sofort wieder zu verschwinden, doch das hatte sie offensichtlich nicht übers Herz gebracht. Sie hatte weiter gefilmt. Was war anschließend passiert?
Die Sorge um ihre beiden Töchter brachte Susanne beinahe um den Verstand. Inzwischen hatte die Polizei das Video. Sie analysierten es genauer und hatten Kontakt zu den australischen Behörden aufgenommen. Dort hatten sie erfahren, dass Luisa sich wohl anonym bei der Polizei in Alice Springs gemeldet hatte. Ein Brief war dort eingegangen, der bis zum Anruf der deutschen Kollegen nicht wirklich ernst genommen worden war. Ein Brief mit einem Bild von Leonie und der Bitte, nach ihr zu suchen. Es brach Susanne das Herz. Hatte Luisa sich allen Ernstes nicht getraut, sich damit an ihre Eltern zu wenden? Oder an die hiesige Polizei, die mit dem Fall vertraut war? Sie musste gedacht haben, dass man ihr nicht glauben würde. Und das Schlimme war: Es wäre womöglich tatsächlich so gewesen. Wie oft hatte Luisa Leonie bereits irgendwo gesehen? Und wie oft war ihr gesagt worden, dass es Einbildung war?
Susanne gab sich selbst eine Mitschuld daran, dass nun beide ihre Töchter verschwunden waren. Die Angst, dass sie nicht mehr am Leben waren, umklammerte unbarmherzig ihr Herz.
„Sie haben Luisas Handy geortet", kam Thorsten plötzlich atemlos gebärdend auf sie zu. Sofort schoss Susanne von ihrem Stuhl hoch. Das waren gute Neuigkeiten, oder nicht? „Es befindet sich auf dem Grundstück einer Farm, ungefähr drei Stunden von Alice Springs entfernt. Die dortige Polizei schickt sofort jemanden hin."
Oh Gott, war dieser Albtraum womöglich schon bald vorbei? Susanne ertrug das Warten und Bangen nicht mehr. Es war vor zehn Jahren schon schlimm genug gewesen. Warum musste sich nun alles wiederholen?
„Könnte es die Farm aus dem Video sein?"
Ihr Mann nickte. Susanne atmete einmal tief durch, zerrissen zwischen Erleichterung und Anspannung. Waren ihre beiden Töchter noch dort? Und waren sie noch am Leben?
Es war grausam, darauf warten zu müssen, bis die Einsatztruppe die Farm erreichen würde. Wie sollte Susanne das nur überleben?
Immer wieder erfuhr sie neue Details, die die Polizisten in Alice Springs bei ihren Ermittlungen herausfanden. Luisa hatte in dem Supermarkt herumgefragt, vor dem sie das Foto aufgenommen hatte. Dort hatte eine Mitarbeiterin ihr den Tipp gegeben, sich bei einer Autowerkstatt zu melden. In dieser Werkstatt hatte sie schließlich die Adresse des Mannes erfahren, der womöglich für Leonies Entführung verantwortlich war. John Miller. Seine Adresse stimmte mit der Handyortung überein. Luisa war offensichtlich, ohne weiter darüber nachzudenken, dorthin gefahren. Ihrer Zwillingsschwester entgegen, in dem verzweifelten Versuch, aller Welt einen Beweis zu liefern, dass sie ihre Schwester dieses Mal wirklich gefunden hatte.
Stumme Tränen liefen über Susannes Wangen. Warum hatten sie Luisas Sichtungen der letzten Jahre nur nicht ernst genug genommen? Warum hatten sie sie so weit getrieben, dass sie geglaubt hatte, das alleine schaffen zu müssen? Die Schuldgefühle drohten Susanne zu erdrücken!
Plötzlich tauchte erneut jemand in der Tür zum Konferenzraum auf, in dem Susanne und Thorsten warteten.
„Wir haben etwas gefunden", übersetzte die Dolmetscherin die Worte des Polizisten.
Susannes Herz raste, ihre Hände zitterten. War es etwas Gutes oder etwas Schlechtes? Was hatte man denn gefunden?
„Am Ende des Videos war jemand schwach im Fenster des Hauses zu sehen. Leonie wurde beobachtet, während sie mit Luisa gebärdet hat. Uns ist es gelungen, das Bild so weit aufzubereiten, dass der Mann erkennbar wurde. Die Gesichtserkennung ergab einen Treffer. Der Mann ist polizeibekannt und wir wissen nun, wer er ist. Er heißt nicht John Miller. Sein Name ist Jonathan Müller und er kommt aus Deutschland."
Der Name traf Susanne wie ein Speer mitten ins Herz. Übelkeit überkam sie und sie fühlte sich, als wäre sie soeben von einem Lastwagen angefahren und überrollt worden. Eine Lawine an Gefühlen und pures Grauen begruben sie unter sich.
Jonathan Müller.
Passierte all das ihretwegen?
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Das Foto - Entzweit
Mistério / SuspenseZehn Jahre, nachdem ihre Zwillingsschwester Leonie direkt vor den Augen der gehörlosen Luisa entführt wurde, reist die inzwischen 20-Jährige alleine nach Australien, um sich damit einen Traum zu erfüllen und das Trauma zu überwinden, das sie seit da...