22 Warten

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Nach einem Frühstück und einem Besuch der Ärzte fühlte ich mich schon ein wenig besser. Aber Leonies Aufregung übertrug sich auf mich. Ich konnte mir kaum vorstellen, was für ein Gefühl das für sie sein musste, unsere Eltern bald das erste Mal seit zehn Jahren wiederzusehen. Ich hatte sie erst vor knapp über einer Woche am Flughafen verabschiedet, aber Leonie war vor zehn Jahren fortgerissen worden, ohne dass sie je eine Chance gehabt hatte, sich zu verabschieden und ohne sie seither auch nur ein einziges Mal gesehen zu haben. Stattdessen hatte sie sich üble Lügen über unsere Mutter anhören müssen und jahrelang dagegen angekämpft, ihrem Entführer Glauben zu schenken.

Leonie liebte unsere Eltern nach wie vor. Und sie konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen.

Doch vorher hatte sie einen Termin mit der Polizei. Wir waren volljährig, die Ermittler mussten nicht auf unsere Eltern warten und jede Sekunde zählte, um das Drogenkartell bis zum Letzten auszulöschen. In der Nacht hatte bereits die erste Razzia stattgefunden, Leonies knappe Informationen hatten bereits viel Hilfreiches enthalten. Fünfzehn Angehörige des Kartells waren dabei verhaftet worden. Aber die Finger des Kartells reichten noch viel weiter und Leonie war erst sicher, wenn alle verhaftet waren, die eine Gefahr für sie werden konnten. Daher war die Polizei noch einmal auf ihre Mithilfe angewiesen. Allerdings wollte Leonie dieses Gespräch nicht alleine bestreiten. Sie hatte mich gefragt, ob ich bereit war, dabei zu sein. Ich hatte überhaupt nicht darüber nachdenken müssen. Natürlich würde ich Leonie zur Seite stehen. Sie würde nie wieder irgendetwas alleine machen müssen, wenn sie nicht wollte.

Zwei Ermittler waren nun bei uns im Krankenzimmer. Ich war noch nicht fit genug, um aufzustehen, also waren sie zu uns gekommen. Leonie saß neben meinem Bett und hielt meine Hand. Sie fühlte sich feucht an und war kalt. Nervosität. Es konnte nicht leicht für sie sein, über all das zu sprechen. Immer wieder spürte ich, wenn die Fragen belastender wurden, denn dann drückte Leonie meine Hand etwas fester. Teilweise zitterte sie leicht. Aber Leonie schien das gut zu meistern, die Ermittler sahen zufrieden aus. Sie nickten oft und schienen Leonie gut zuzureden, soviel ich von ihren Lippen ablesen konnte. Mitgefühl lag in ihrem Blick, aber auch deutlich sichtbare Anerkennung. Sie rechneten es Leonie hoch an, dass sie so offen mit ihnen sprach.

Ich hörte nichts von dem, was sie den Polizisten erzählte, bekam nur hin und wieder Fetzen durchs Lippenlesen mit, aber Leonie gab mir danach eine kleine Zusammenfassung. Sie war selbst erstaunt, wie viel sie hatte helfen können. Erst durch die Nachfragen der Polizei hatte sie begriffen, wie viel sie eigentlich über das Kartell wusste. Wie viel die Männer in ihrer Anwesenheit preisgegeben hatten, in dem Glauben, dass Leonie niemals die Chance haben würde, es auszuplaudern.

Leonie hatte die Chance erhalten. Und sie hatte alles ausgeplaudert.

Das Kartell würde sein wahres Wunder erleben.

Ich grinste in mich hinein und war unglaublich stolz auf Leonie. Sie war so stark, hatte sich in zehn Jahren Gefangenschaft nicht brechen lassen und jeden Tag von neuem gekämpft. So kämpfte sie auch heute noch und half der Polizei, wo es ging. Sie war eine Löwin!

Nicht mehr lange und sie würde für all das belohnt werden. Denn schon bald würden unsere Eltern kommen. Wir konnten es beide kaum noch erwarten. Nach den traumatischen Erlebnissen gestern war auch ich ganz schön mitgenommen. Es würde guttun, den Halt und Trost meiner Eltern zu spüren, die auch in den letzten zehn Jahren immer für mich dagewesen waren.

Solange wir warteten, legte Leonie sich wieder zu mir ins Bett. Wir konnten nicht genug voneinander bekommen, konnten beide noch immer nicht fassen, dass wir es wirklich geschafft hatten. Dass wir uns gefunden und überlebt hatten. Dass wir nebeneinanderliegen und uns nahe sein konnten. Ich schwebte im Glück und hoffte, dass es immer so schön bleiben würde. Aber ich war mir dessen bewusst, dass dieser Wunsch nicht eintreten würde. Niemand wusste, wie sehr Leonie unter den Jahren der Gefangenschaft leiden würde, welche Nachwirkungen sie mit sich bringen würden. Bisher war alles gut, die Freude darüber, gerettet worden zu sein, überwog. Doch wie schnell würde die Realität Leonie einholen? Die Erkenntnis, wie viel sie verpasst hatte? Dass ich beginnen würde, zu studieren, während sie nicht einmal einen Schulabschluss hatte? Wie lange würde die Freude über ihre Rettung all das Düstere überstrahlen? Die Schatten der Vergangenheit würden unweigerlich nach und nach die hellen Strahlen vertreiben und sich wie ein leiser Feind in unser Leben schleichen. Ich hoffte nur, dass wir beide dem gewachsen waren und einen gemeinsamen Weg finden würden, Leonie zurück ins Leben zu führen.

Es würde ein langer und vermutlich schwieriger Weg werden, doch wir würden ihn zusammen gehen und das machte alles viel leichter und erträglicher.

Inzwischen hatte ich auch erfahren, was mit Jonathan passiert war. Die Männer vom Drogenkartell hatten ihn befreit und in ihr eigenes Auto gesetzt. Als die Helikopter gekommen waren, hatte er sich ans Steuer gesetzt und die Flucht ergriffen. Doch er war nicht weit gekommen. Als er aufgehalten worden war, hatte er wie wild um sich geschossen, bis sein Magazin leergewesen war, und sich erst dann ergeben. Widerstand wäre zwecklos gewesen, dazu waren seine Verletzungen zu schwer. Er lag nun mit gebrochenen Rippen, einem Schädel-Hirn-Trauma und Prellungen am ganzen Körper hier im Krankenhaus. Aber man hatte uns versichert, dass er streng bewacht wurde. Jonathan Müller konnte uns nichts mehr antun. Er würde für immer ins Gefängnis wandern.

Es war für Leonie nicht leicht, zu wissen, dass ihr Entführer sich im selben Gebäude befand, doch die Vorfreude auf unsere Eltern half ihr, sich von dem Gedanken abzulenken. Außerdem hatte sie mich. Das war mehr, als sie in den letzten zehn Jahren je gehabt hatte und alles, was wir brauchten. Wir waren endlich wieder vollständig und das tat unheimlich gut. Es war wie eine Salbe für unsere kaputten Seelen.

Leonie blickte auf.

„Es hat geklopft!", gebärdete sie mit großen Augen und ich sah Aufregung und grenzenlose Vorfreude in ihrem Blick.

Jemand kam herein und ich beobachtete, wie Leonies fröhliche Fassade in sich zusammenfiel. Doch als die Krankenschwester anfing, zu reden, leuchteten Leonies Augen wieder auf.

„Mama und Papa sind am Flughafen in Alice Springs angekommen! Sie werden gerade abgeholt und sind in zehn Minuten da!"

Tränen standen in ihren Augen und es berührte mich so sehr, dass es mir gleich erging. Ich spürte, wie Leonie zu zittern begann. Aufregung und Vorfreude hatten sie fest im Griff.

Es würde sehr emotional werden.

Ich hoffte, ich war dem nach allem, was gestern passiert war, gewachsen.


Das Foto - EntzweitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt