Ich wagte nicht, zu atmen. So als könnte ich den entscheidenden Moment verpassen, wenn ich irgendetwas anderes tat, als mich einzig und alleine auf die sich öffnende Tür zu konzentrieren.
Die Sekunden zogen sich quälend in die Länge und ich hatte das Gefühl, schon seit Stunden hier zu sitzen, obwohl es sich noch nicht einmal um wenige Minuten handelte. Dann endlich war die Tür weit genug geöffnet, dass ich eine Gestalt darin ausmachen konnte. Leider konnte ich noch kein Gesicht erkennen, weil es im Hausflur viel dunkler war als draußen und die Sonne mich blendete.
Doch dann trat die Person heraus.
Die Zeit schien einen Moment stillzustehen. Mein Herz raste und ich hob meine Hand vor den Mund, um jeden Laut im Keim zu ersticken. Meine Hand zitterte, während ich beobachtete, wie eine zierliche Gestalt aus dem Haus trat. Die Kleidung, die sie trug, war ihr zu groß und ihre langen braunen Haare waren zu einem zerzausten Zopf hinter ihrem Kopf verknotet. Tränen traten in meine Augen, als ich das Gesicht im Sonnenlicht ganz klar erkennen konnte.
Intuitiv wollte ich aufspringen und auf meine Schwester zu rennen. Ihr um den Hals fallen und sie umarmen. Es war Leonie! Sie war es tatsächlich! Ich unterdrückte ein Schluchzen und nahm all meine Willenskraft zusammen, um hinter dem Busch versteckt zu bleiben. In mir tobte ein Sturm, die Distanz zu Leonie quälte mich, jetzt, wo sie mir doch so nahe war.
Mit zitternden Händen zog ich mein Handy aus der Hosentasche und filmte, wie Leonie mit einem Müllbeutel in der Hand an der Hauswand entlang lief.
Ich muss sie auf mich aufmerksam machen! Das ist womöglich meine einzige Chance!
Panisch überlegte ich. Sobald Leonie den Beutel im Mülleimer versenkt hatte, würde sie ins Haus zurückkehren und ich hatte keine Ahnung, wann sie wieder herauskommen würde. Womöglich den restlichen Tag nicht! Ich musste jetzt sofort mit ihr sprechen. Ich brauchte meinen Beweis.
Als ich mit meinem rechten Fuß gegen einen Stein stieß, klarten meine rasenden Gedanken ein wenig auf. Ich ergriff den Stein, atmete einmal tief durch und warf ihn anschließend so zielgenau wie möglich in Leonies Richtung. Unter keinen Umständen durfte er das Haus treffen, aber er musste weit genug fliegen, um von Leonie bemerkt zu werden.
Frustriert sah ich zu, wie der Stein auf halber Strecke zu Boden fiel. Verdammt, ich war zu vorsichtig gewesen. Dabei hatte Leonie den Mülleimer inzwischen erreicht und war gerade dabei, ihn wieder zu schließen.
Mein Herz raste, als ich mich nach einem weiteren Stein umsah. Ich stoppte die Aufnahme auf meinem Handy, um sie wieder zu starten, sobald ich den zweiten Stein warf. Es war ohnehin besser, wenn das Video nicht zu lange war, wenn ich es hier im Outback bei schlechtem Empfang verschicken wollte. Alles, wirklich alles, hing von diesem Video ab.
Angespannt startete ich einen zweiten Versuch. Leonie war bereits auf dem Rückweg! Wenn es mir nicht innerhalb der nächsten Sekunden gelang, ihre Aufmerksamkeit zu erwecken, war meine womöglich einzige Chance innerhalb der nächsten Stunden verflogen. Zitternd sah ich dem Stein hinterher. Das Video würde vollkommen verwackelt sein, aber ich hoffte, dass man dennoch etwas erkennen konnte.
Bitte lass den Stein sein Ziel erreichen. Bitte lass Leonie ihn bemerken!
Ich sandte gefühlt tausend Stoßgebete in den Himmel, bis der Stein schließlich am Boden aufkam.
Leonie zuckte zusammen.
Sie hatte den Stein bemerkt! Verwundert hob sie den Blick und sah sich um. Ich kroch ein wenig hinter dem Busch hervor, hinter dem ich kniete und winkte vorsichtig. Als Leonie mich nur wenig später erblickte, riss sie schockiert die Augen auf.
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Das Foto - Entzweit
Misterio / SuspensoZehn Jahre, nachdem ihre Zwillingsschwester Leonie direkt vor den Augen der gehörlosen Luisa entführt wurde, reist die inzwischen 20-Jährige alleine nach Australien, um sich damit einen Traum zu erfüllen und das Trauma zu überwinden, das sie seit da...