4 Ermittlungen

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Ich konnte es noch immer nicht fassen. Eine Verkäuferin hatte Leonie auf dem Foto erkannt! Sie hatte mir auf meinen Notizblock geschrieben, dass sie schätzungsweise einmal im Monat in Begleitung eines Mannes in den Supermarkt käme. Einmal hatte sie den Mann etwas von seiner Farm reden hören, die drei Stunden von Alice Springs entfernt sei. Nun ergab es auch Sinn, weshalb sie nur einmal im Monat kamen. Öfter lohnte sich die lange Fahrt nicht.

Aber das Beste war: Die Frau hatte mir einen Tipp gegeben, wie ich herausfinden konnte, wo Leonies Entführer lebte. Es gab in Alice Springs einen Mechaniker, der die Fahrzeuge aller Farmen rund um Alice Springs versorgte. Wenn jemandem ein Traktor kaputt ging, rief man Mr. Macintosh und er kam mit seiner mobilen Reparaturwerkstatt. Mr. Macintosh war damit meine beste und vermutlich einzige Chance, um Leonie zu finden.

Vor Aufregung hatte ich die ganze Nacht kaum geschlafen. Bestimmt hundert Mal hatte ich mein Handy in der Hand gehabt und war kurz davor gewesen, meine Eltern anzurufen und ihnen alles zu erzählen. Doch ich hatte mich jedes Mal selbst ermahnt, es sein zu lassen. Ich wollte ihnen den Schmerz nicht antun, falls Leonie nicht gefunden werden konnte. Es reichte aus, dass ich mein restliches Leben darunter leiden würde.

Allerdings hatte mir das auch den Ernst der Lage wieder vor Augen geführt. Es reichte nicht aus, dass nur ich nach ihr suchte. Ich wollte, dass Leonie alle Hilfe bekam, die möglich war. Also war ich in einer Nacht- und Nebelaktion aus meinem Bett geklettert, zur Rezeption gegangen und hatte um einen Ausdruck des Fotos gebeten, aus dem ich den Ausschnitt herangezoomt hatte, auf dem Leonie zu sehen war. Ausgestattet mit dem Foto und einem Briefumschlag war ich wieder in mein Zimmer gerannt und hatte eine Nachricht auf Englisch an die Polizei verfasst:

„Das ist Leonie Hauser. Sie wurde vor 10 Jahren in Deutschland von einem unbekannten Mann entführt. Seither wird sie vermisst. Ich habe sie gestern hier in Alice Springs entdeckt. Das Foto wurde auf dem Parkplatz des Coles in der Bath Street and Gregory Terrace aufgenommen. BITTE SUCHEN SIE NACH IHR!"

Ich hatte das Foto und die Nachricht in den Briefumschlag gesteckt und ohne Absender an die Polizei adressiert. Anschließend hatte ich mir ein Taxi genommen, mich in der Nähe der Polizeistation absetzen lassen und war die letzten Meter gelaufen, um den Briefumschlag ungesehen in den Briefkasten zu werfen. Niemand sollte wissen, dass er von mir kam. Niemand sollte hinterfragen, ob das eine Nachricht einer Verrückten war, die ihre Zwillingsschwester überall entdeckte. Die Polizei sollte sich wundern und der Sache zumindest nachgehen. Das hatte Leonie verdient!

Am Morgen hatte ich mich schließlich völlig übermüdet zur Autovermietung aufgemacht. Inzwischen hatte ich mein Auto abgeholt und war damit unterwegs zu Macintosh. Der Linksverkehr brachte mich ganz schön durcheinander und ich hatte bei einigen Kreuzungen beinahe einen Unfall verursacht. Ich hatte meine Gedanken nicht gut genug beieinander, um mich auf die verwirrende neue Straßenführung zu konzentrieren. Ich konnte die ganze Zeit nur daran denken, dass ich womöglich Leonie finden würde. Ich versuchte mir vorzustellen, wie wir uns in die Arme fielen. Gab es eine schönere Vorstellung als diese? Mir fiel keine ein. Doch bevor es soweit war, musste ich erst einmal unbeschadet bei der Werkstatt ankommen und dem Mann die Informationen entlocken, die ich brauchte.

Als ich an der Werkstatt ankam, zitterten mir die Knie. Der Linksverkehr hatte mir mehr zu schaffen gemacht, als ich geahnt hatte, und meine Nervosität war mit jedem Meter, den ich mich meinem Ziel genähert hatte, gestiegen.

Ein Mann kam mir entgegen, groß, breite Schultern, Dreitagebart, Schmutz im Gesicht und in Arbeitskleidung, und sagte irgendetwas. Soviel ich von seinen Lippen ablesen konnte, begrüßte er mich und fragte, was ich von ihm wollte, ob ich ein Problem mit meinem Auto hatte. Allerdings schien er in einem starken Dialekt zu sprechen, weshalb es mir sehr schwer fiel, von seinen Lippen zu lesen. Also zog ich fragend die Augenbrauen hoch und gebärdete, dass ich gehörlos war. Allerdings nicht in DGS, sondern so, dass es die meisten Menschen verstanden: Ich zeigte auf mein Ohr und schüttelte den Kopf. Der Mann sagte noch etwas und ich wiederholte meine Erklärung, bis er es zu begreifen schien. Erkenntnis flackerte in seinen Augen auf und wie so oft folgte der Erkenntnis Hilflosigkeit. Doch ich war vorbereitet. Ich ging die letzten Schritte auf ihn zu und streckte ihm das ausgedruckte Foto und ein Blatt Papier entgegen. Er nahm beides, sah sich das Bild an und las konzentriert, was ich geschrieben hatte.

Das Foto - EntzweitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt