Teil 1

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Vorsichtig creme ich die Narben ein. Mittlerweile kann ich in den Spiegel schauen und sie ansehen, mit den Fingern an ihnen entlang streichen ohne das sich mein Magen zusammenzieht. Nach den 4 Monaten im Koma war es für mich nicht leicht, mit dem umzugehen, was an diesem einen Tag passiert ist. Lange konnte ich die Narben nicht selbst versorgen, sondern war auf die Hilfe meiner Mutter oder Elisa angewiesen. Für letztere stellt es bis heute ein Wunder dar, dass ich überhaupt noch am Leben bin. Die letzten Monate habe ich mit trainieren verbracht um irgendwie wieder in Form zu kommen. Es hat lange gedauert, dafür bin ich jetzt stärker, schneller und aufmerksamer als früher. Denn noch einmal wird mich Anatoli nicht erwischen, im Gegenteil, ich habe nur ein Ziel: ich werde Anatoli umbringen. Ich weiß, wo er sich aktuell befindet, habe mich bereits in seinen Computer und sein Handy gehackt, weshalb ich ihn problemlos verfolgen kann. Das gute, wenn man offiziell tot ist ist, dass niemand nach dir Ausschau hält. Neben Anatoli habe ich noch eine weitere Person im Auge und beobachte seit etwa 4 Monaten jeden Schritt. Es war gar nicht so einfach, Mayas neue Identität heraus zu finden, aber unmöglich ist heute ja nichts mehr. So kenne ich ihre neue Adresse, die Adresse ihres neuen Arbeitgebers, eine kleine Bücherrei, die so gut wie keinen Zulauf hat sowie ihre neue Handynummer. Allerdings kann ich keinen Kontakt zu ihr aufnehmen, egal wie gerne ich dies tun würde. Wie oft ich nachts wach liege und überlege sie anzurufen, kann ich nicht mehr zählen. Damit wäre sie nur wieder in Gefahr, in noch größerer als sie sowieso schon wegen mir ist. Nur wegen mir, hat sie keinen Kontakt zu ihrem Sohn. Da sie von jetzt auf gleich in den Zeugenschutz musste und der Sorgerechtsstreit noch nicht geklärt war, wurde entschieden, ihren Sohn in der Obhut des Staates zu belassen. Eine Entscheidung die ich bis heute nicht nachvollziehen kann, aber wenigstens hat ihr Ex ihn nicht bekommen. Dafür ist er, ohne Strafe für das was er ihr angetan hat davon gekommen. Etwas das ich auch gerne ändern würde. Nachdem meine Eltern erfahren haben, dass Tristan in eine Pflegefamilie kommen soll, habe sie zumindest ihre Beziehungen spielen lassen und dafür gesorgt, dass ein befreundetes Ehepaar den Jungen aufnehmen kann. So kann er wenigstens in geregelten Verhältnissen aufwachsen, statt im schlimmsten Fall in einer Pflegefamilie mit 6 anderen Kindern, wo die Pflegeeltern nur das Geld sehen.

Nachdem ich mich angezogen habe setze ich mich wieder vor meinen Computer und schaue nach, was Anatoli so treibt. Neben dem Training ist dies meine einzige Beschäftigung. Kurz sehe ich mein eigenes Spiegelbild im Bildschirm. Meine Haare sind etwas heller als früher, doch viel mehr habe ich nicht an mir verändert. Gehe ich raus, dann meist mit einer Cap oder einer Mütze. Ich achte darauf, in der Masse zu verschwinden und nicht zu auffällig zu versuchen, nicht gesehen zu werden. Nachdem auf mich geschossen wurde, hat mein Vater alles daran gesetzt, Anatoli und seine Männer in die Hände zu bekommen. Es haben einige gute Freunde ihr Leben verloren, darunter auch Jack. Er ist vor meinen Vater gesprungen, als Anatoli auch auf ihn geschossen hat. Die Kugel traf sein Herz und man konnte nichts mehr für ihn tun. Mein Vater selbst traf Anatoli an diesem Tag in sein linkes Bein. Die Verletzung scheint nie ordentlich verheilt zu sein, denn er humpelt bis heute. Seit diesem Tag versteckt er sich in Moskau und hat das Land nicht mehr verlassen. Seine Drogengeschäfte hier konnte mein Vater unterbinden und hat alle Dealer der Polizei ausgeliefert. Alle außer Tyler, die konnten wir aus dem Loch, das sie sich selbst geschaufelt hat wieder rausziehen. Mein Vater hat sie jetzt in eine leitende Position in einer seiner Tochterfirmen gesetzt. Vermutlich tut ihr der dort herrschende Dresscode sehr gut. Ich hingegen arbeite Tag und Nacht an einem Plan, wie ich Anatoli zur Strecke bringen kann, doch dieser wird besser bewacht als der Präsident. Er verlässt kaum das Haus und wenn mit einer Schar an Bodyguards, die ihn alle überragen. Auch jeder versuch ihn zu vergiften ist bisher misslungen, da er entweder die Dinge vorkosten lässt oder jemanden hat, der ihm die Briefe und Pakete öffnet. Leider ist dieser Mann wirklich nicht dumm und er weiß, dass viele Leute hinter ihm her sind, da er mich getötet hat. Oder eben auch nicht. Mein zweiter Bildschirm leuchtet auf und ich sehe Maya wie sie vor ihrer Tür steht. Sie ist mittlerweile brünett, ihre Haare sind etwa Schulter lang und sie ist sehr schlank geworden. Als sie mal arbeiten war, habe ich vor ihrer Wohnungstür eine Kamera angebracht. Bis auf die Beamten des Zeugenschutzes hat sie nie Besuch. Ihre Abende verbringt sie mit einem Glas Wein auf der Couch, wobei es meist nicht bei diesem einen Glas bleibt. Ich konnte es mir nicht nehmen lassen und war einen Tag in der Bücherrei um nach ihr zu sehen, doch nachdem ich die Augenringe und ihr eingefallenes Gesicht nur kurz gesehen habe, habe ich es nie wieder getan. Ich habe diese Frau zerstört und ich wünschte, ich könnte es wieder gut machen. Könnte dafür Sorgen, dass sie ihren Sohn im Arm hält, wieder als Detective arbeiten kann und am Abend zu mir nach Hause kommt. Ich träume oft von einer Zukunft mit ihr. Nur momentan ist dies nicht möglich. Das einzige, das ich tun kann, ist sie zu beobachten und zu beschützen.

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