Am Nachmittag vor der Vernissage war Justus gerade dabei, in seiner kleinen Wohnung etwas Ordnung zu schaffen und das Hemd zu bügeln, das er heute Abend anziehen wollte, als das Telefon klingelte.
»Hey, Just«, ertönte Peters Stimme.
»Hey! Alles klar? Wann holst du mich ab?«
Justus hörte Peter seufzen. »Sorry, aber ich muss dir leider absagen. Frank hat einen Todesfall in der Familie und musste nach Montana abreisen. Ich hab spontan seine Schicht heute übernommen. Das heißt, ich werde meinen Abend auf Streife verbringen.«
»Na toll«, meinte Justus enttäuscht. »Aber da kann man nichts machen. Was ist mit Kelly?«
»Nachtschicht. Sie hat noch versucht zu tauschen, aber keine Chance.«
Justus seufzte. »Dann werde ich wohl alleine hingehen müssen.«
»Ja, sorry«, Peter hörte sich tatsächlich geknickt an. »Ich wäre gern mitgegangen. Aber ich kann dich später mit nach Hause nehmen, wenn du magst. Ich meld mich, wann die Schicht zu Ende ist. Grüß Lin von uns und trink einen Champagner für uns mit.«
»Mach ich, bis später.«
Ein Taxi brachte ihn Abends zum Veranstaltungsort. Schon von Außen beeindruckte das Gebäude mit den griechischen Steinsäulen und der großen, breiten Treppe. Er ging durch das pompöse Holzportal und tauchte ein in die Menschenmenge, die sich bereits versammelt hatte.
Einen Augenblick musste er stehenbleiben und die Eindrücke auf sich wirken lassen. Die Fotografien waren durch ein durchdachtes Aufstellungs- und Lichtskonzept perfekt in Szene gesetzt. Über das Stimmengewirr war Gitarrenmusik und eine angenehme Frauenstimme zu hören.
»Einen wunderschönen guten Abend, Mr. Jonas«, riss eine Stimme ihn aus den Gedanken. Justus drehte sich um und stockte für einen Moment. Lin stand vor ihm in einem dunkelroten Kleid aus einem leichten, seidigen Stoff, dass ihr bis zu den Knöcheln ging. Sie hatte ein dezentes Make-Up aufgetragen und ihre langen Haare kunstvoll hochgesteckt. Als i-Tüpfelchen hatte sie ein silbernes Collier mit kleinen Glassteinen in der Farbe ihres Kleides und dazu passende Ohrringe angelegt. Ihre schwarzen Pumps hatten eine beachtliche Höhe, was ihre ungewohnte Größe erklärte. Kurzum: Sie sah atemberaubend aus.
Freudig umarmte sie ihn. »Schön, dass du da bist. Und du siehst großartig aus. Der Anzug steht dir.«
»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben«, staunte er. »Wow! Du stiehlst dem Künstler heute definitiv die Show.«
Lin strahlte. »Danke! Wo sind die anderen?«
»Leider bin ich allein«, bedauerte er. »Kelly hat Nachtschicht und Peter ist für einen Kollegen eingesprungen. Vielleicht schafft er es aber später noch.«
»Oh, sehr schade. Aber umso mehr freue ich mich, dass du trotzdem gekommen bist. Komm, ich möchte dich mit ein paar Leuten bekannt machen.« Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn mit sich.
Lin stellte ihm der Hauptperson des heutigen Abends vor. Ein junger Fotograf aus San Diego. Schmal, blass und introvertiert. Eine eher unauffällige Gestalt, die zeitweise sehr fehl am Platz wirkte, wie Justus bemerkte. Seine Fotografien jedoch waren wirklich umwerfend. Lins Schwärmerei war nicht übertrieben. Es waren ausschließlich schwarz-weiß Portraits auf denen Frauen, Kinder, Männer, unterschiedlichsten Alters und unterschiedlichster Hautfarbe abgebildet waren. Menschen, an denen man tagtäglich vorbeiging, ohne sie weiter zu beachten. Auf den Bildern jedoch zeigten sie so eine starke Anziehungskraft, dass man unweigerlich stehenblieb und ihren Geschichten lauschen wollte.
Nicht weniger beeindruckend am heutigen Abend fand er Lin. Und das lag nicht allein an ihrem Kleid, welches ihr wirklich ausgezeichnet stand. Sie strahlte, als sie ihn herumführte und immer wieder von Gästen zur gelungenen Vernissage angesprochen wurde. Sie war völlig in ihrem Element. Er war sich sicher, dass sie auch in Jeans und T-Shirt geleuchtet hätte.
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Dämonen der Vergangenheit (Drei Fragezeichen Fanfiction)
Fanfiction☆ Gewinner der Amby Awards 2023 ☆ Was muss geschehen, damit man seinem bisherigen Leben von einem Tag auf den anderen den Rücken kehrt und jeden Kontakt abbricht? Eyleen Andrews steht vor einem Rätsel. Eigentlich lebt sie das Leben, das sie sich i...