Kapitel 17

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Seine Hände zitterten, als er ins Auto stieg und losfuhr. Wie auf Autopilot lenkte er den Mietwagen durch die Straßen von Rocky Beach, bis er plötzlich an einem Schotterplatz zum Stehen kam, vor ihm das unendliche Panorama des Pazifiks. Bob stellte den Motor ab und blinzelte. Es war keine bewusste Entscheidung gewesen, hierher zu kommen. Irgendein Teil seines Hirns - definitiv ein sehr vernünftiger - schien verhindern zu wollen, dass er in diesem Zustand weiterfuhr.

Er stieg aus und verließ den Parkplatz, der eigentlich nicht mehr als ein breiter Schotterplatz am Rande der Straße war. Der Weg zum Strand bestand aus einem schmalen Trampelpfad zwischen vereinzelten Felsbrocken. Ohne wirklich darauf zu achten, dass er nicht stolperte, lief er Richtung Wasser. Immer schneller und schneller wurde er. Er drosselte sein Tempo kaum, blieb nur kurz stehen, um sich Schuhe und Socken auszuziehen und die Hose ein Stück hochzukrempeln. Und dann hatte er die Wellen endlich erreicht. Sie umspülten seine Füße, krochen sein Bein hinauf, erreichten seine Hose. Aber er kümmerte sich nicht darum. Er stand einfach dort, am ganzen Körper zitternd, mit einer solchen Wut, die immer stärker in seinem Bauch brannte, dass sie irgendwann einfach aus ihm herausbrach.

Er schrie. Er brüllte das Meer an, als trüge es irgendeine Schuld an dem ganzen Schlamassel. Er ließ einfach alles raus, was sich angestaut hatte, brüllte, trat gegen die Wellen und spritzte sich nur noch mehr nass damit.

Verfluchte Justus, der ihn gerade so eiskalt erwischt hatte. Der ihn allein mit seiner Anwesenheit und seinen wenigen Worten so sehr aus der Fassung gebracht hatte.

Verfluchte Lin, die sich in die Sache eingemischt hatte, über die er nicht mehr hatte nachdenken wollen. Die es einfach nicht hatte auf sich beruhen lassen können. Und die jetzt nicht hier bei ihm war, an seiner Seite, sondern schwer verletzt und ohne Bewusstsein in ihrem Krankenbett lag. Und das, obwohl er sie jetzt mehr denn je gebraucht hätte.

Verfluchte aber am meisten sich selbst. Dass er sich nicht unter Kontrolle hatte. Dass er die Sache von damals immer noch nicht für sich abgeschlossen hatte. Nach all den Jahren und all den Versuchen einfach alles zu vergessen. Er hatte gedacht, auf einem gutem Weg zu sein. Die Alpträume waren weniger und erträglicher geworden. Seine Gedanken drehten sich schon lange nicht mehr ausschließlich um früher. Aber kaum war er hier, kam plötzlich alles wieder hoch. Die unterdrückten Gefühle, die Erinnerungen. Alles prasselte auf ihn ein und ließ ihm kaum mehr Raum zum atmen. Überforderte ihn maßlos, auch wenn er nach außen hin einen anderen Eindruck machte. Aber das hatte er die letzten Jahre sowieso perfektioniert.

Und zu guter Letzt verfluchte er den Zufall, dass alle seine damaligen Freunde irgendwie in den Unfall verwickelt waren und ihm so gar keine Chance gegeben wurde, sich vor den Begegnungen zu drücken. Nicht nur, dass Lin sich mit ihnen hinter seinem Rücken angefreundet hatte, Justus mit im Wagen gesessen und ihr durch sein schnelles Eingreifen das Leben gerettet hatte. Nein, in der Millionenstadt Los Angeles hatte ausgerechnet die Streife mit Peter Shaw den Unfall aufgenommen. Und zur Krönung war ausgerechnet dessen langjährige Freundin - jetzt Frau - eine der behandelnden Ärzte.

Als seine Stimme den Dienst schließlich versagte, hatte er endlich das Gefühl, wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Er ging zurück zu seinen Schuhen und ließ sich daneben in den Sand fallen. Er winkelte die Beine an und legte die Arme auf den Knien ab.

Erst jetzt registrierte er, dass er nicht allein gewesen war. Aber die beiden Surfer waren mehrere hundert Meter von ihm entfernt und hatten vermutlich gar nichts mitbekommen. Und selbst wenn, war es nun auch egal.

Er dachte noch einmal über diesen Zufall nach. Warum war ausgerechnet Peters Streife zum Unfall gerufen worden? Sie waren sich auf dem Revier nicht begegnet, aber allein die Möglichkeit hatte ihm Schweißausbrüche bereitet. Am Ende war er erleichtert gewesen. Aber konnte das Zufall gewesen sein? Genauso Kelly. Es gab hunderte Ärzte in dieser riesigen Klinik und ausgerechnet sie hatte Dienst und assistierte bei Lins OP. War auch das Zufall? Justus hatte früher immer gesagt, er glaube nicht an Zufälle. Auch wenn er das meistens in einem anderen Kontext meinte. Auch Bob glaubte nicht daran. Aber was war es dann? Schicksal? Göttliche Fügung?

Was auch immer, die aktuellen Ereignisse zwangen ihn aus seinem sicheren Kokon herauszukommen und sich den Dämonen zu stellen, die ihn schon so lange begleiteten.

Seine Gedanken schweiften zurück zu seinem Besuch bei Justus. Die Aktion gerade war keine Glanzleistung gewesen. Dessen war er sich bewusst. Aber sie hatte ihn zum Nachdenken gebracht. Und es gab sehr viel, über das er nachzudenken hatte.

Justus' Worte hingen wie ein Damoklesschwert über ihm. Glaubst du für UNS war das einfach?

Wenn er ehrlich war, hatte er diesen Gedanken nie zugelassen. Er war so auf sich selbst fixiert, auf die beängstigende Vorstellung, was in den Tagen, die ihm fehlten, passiert sein könnte und auf die blanke Panik, die der Besuch seiner beiden Freunde ausgelöst hatte, dass er ihre Perspektive einfach völlig verdrängt hatte. Jetzt lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken, als er genau das jetzt zuließ. Ihm wurde mit einem Mal vollends bewusst, was seine Freunde ausgestanden haben mussten und das die Ereignisse nicht nur für ihn traumatisch gewesen sein dürften.

Gedankenverloren beobachtete er die Surfer auf ihren Brettern und erinnerte sich an die vielen vielen Stunden, die er hier mit seinen Freunden verbracht hatte. Auf dem Wasser, im Wasser. Und mit jeder Erinnerung, die aus der Vergessenheit an die Oberfläche trat, schlich sich auch ein neues Gefühl ein und machte sich in seiner Brust breit. Ein Gefühl, dass er schon sehr sehr lange nicht mehr gefühlt hatte und das ihn im ersten Moment völlig überraschte.

Er vermisste es.

Er vermisste die Zeit damals, die unbeschwerten Stunden mit seinen Freunden, die Abenteuer, die sie erlebt hatten.

Und noch viel mehr: Er vermisste seine beiden Freunde!

Dämonen der Vergangenheit (Drei Fragezeichen Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt